Das Heerlager der Heiligen
hatte bereits den Besitzer gewechselt, und Haß stärkt zudem den Glauben. Dies versuchte Clément Dio auszudrücken, ohne dabei weder sich noch jene zu verraten. »Die Menschen vom Ganges lehnen einen Kompromiß ab.«
Am gleichen Tag erhielt Jules Machefer eine weitere anonyme Sendung von hunderttausend Francs. Am ersten Bündel des Pakets war ein weißer Zettel angeheftet mit fünf mit Schreibmaschine geschriebenen Worten: »Warten Sie nicht zu lange!« Diesmal war mit einem Füllhalter noch hastig hinzugefügt worden: »Ich bitte Sie darum!«
Andere Versuche gleicher Art gab es heimlich im neuen Untergrund. Der Direktor von Radio-Ost, wo Albert Durfort auftrat, erhielt in seiner Wohnung zweihunderttausend Francs, was ihn nicht sehr verwunderte. Der Sendung lag die Frage bei: »Muß man die Halsabschneider erst bezahlen, wenn man einen andern Glockenton hören will?« Auch er konnte nichts tun, wenigstens noch nicht. Dies gab er andeutungsweise zu verstehen.
Machefer hielt an seinem Schlachtplan fest und spielte den Toten im Schützengraben. Nach wie vor erschien auf der ersten Seite von »La Pensée Nationale« die geographische Karte, auf der täglich die neue Marschroute der Flotte zu sehen war, eine fortlaufende Linie des zurückgelegten Wegs und eine punktierte des vermutlich weiteren Wegs. Darüber stand eine fette Überschrift: »Mehr als 10 000 km vor der Stunde der Wahrheit!«
Zehntausend Kilometer …
Ist das weit? Oder ganz nahe? Morgen? Oder nie? Was spielt man denn heute Lustiges im Fernsehen?
23.
Zwei Wochen später brachte die Schlagzeile die neue Position der Flotte: »Mehr als 5000 Kilometer vor der Stunde der Wahrheit!« Inzwischen hatte sich nichts ereignet, Stillschweigen. Das Wetter war immer noch schön. Weit entfernt und sich selbst überlassen schwamm die unsichtbare Armada auf dem einsamen Meer. Die Öffentlichkeit stand im Bann der Kreuzfahrt und des Mythos von der Brüderlichkeit und sang »die Ballade von der letzten Chance«. Im Rundfunk gab Rosemonde Réal die Ergebnisse ihrer Wettbewerbsveranstaltung »Kinder zeichnen« bekannt. Thema des Wettbewerbs: Der Ganges bei uns. Unter der Schirmherrschaft des Herrn Jean Orell, Nobelpreisträger für Literatur, Informationsminister und Regierungssprecher wurden die besten Zeichnungen im Petit Palais ausgestellt. Sie wurden eingerahmt und angestrahlt. Die in Leder gebundenen Sachverzeichnisse in Goldschrift enthielten eine Themeneinteilung der Zeichnungen je nach örtlicher Sicht, so zu Hause, in der Schule, im Krankenhaus, in der Fabrik, auf dem Feld, auf der Straße …
Man hatte viel Geld ausgegeben. Eine riesige Werbung war entfaltet worden, und alles, was in Paris Rang und Namen hatte, wollte sich bemerkbar machen. Fünf berühmte Maler, Marxisten und gleichzeitig Milliardäre, die gewöhnlich allen Ehrungen aus dem Weg gingen, mit denen man sie überhäufte, hatten für diesen Abend ihre Schlösser im sonnigen Süden verlassen. Die Gewölbe des Petit Palais hallten von dem närrischen Beifall der zahlreichen Journalisten an ihren Mikrophonen wider. Die jungen Künstler wurden einzeln ausgezeichnet. Nie zuvor hatten unverantwortliche Kinder so viel Talent aufgeboten. Und niemand ließ ein Wort darüber fallen, daß die Meisterwerke dieser Kinder, dieser halb verrückten Zwerge, in die Psychiatrie gehörten. Vor einer auffallenden Gouaschmalerei blieb der Minister stehen. Vor einem roten Hintergrund gestikulierte eine Art Harlekin, bei dem abwechselnd ein Fuß schwarz der andere weiß, eine Wade schwarz die andere weiß, ein Schenkel schwarz der andere weiß war und so weiter bis zum Gesicht, das in vier Felder eingeteilt war. »Was für ein gutes Gemälde«, sagte der Minister. »Es gibt kein Talent, das nicht aus dem Herzen kommt, und kein Genie ohne Seele. Laßt uns über den Unterricht, den uns diese Kinder geben, nachdenken.«
Jean Orelle, Nobelpreisträger und Minister, Ratgeber der Großen dieser Welt, dachte nach, wobei ihn gleichzeitig ein leichter Druck im Magen und eine peinliche Angst quälten, weil er sich an seinen Bauernhof in der Provence erinnerte, mit den zwölf möblierten Räumen, dem blühenden Garten, der großen Liege unter Tamarisken, und dann im Geist die fuchtelnden Hungergestalten am Portal sah … Er sagte kein Wort mehr. Man war seine Wunderlichkeiten gewöhnt. Die Presse schrieb dazu: »Überwältigt vom Gefühl und sich selbst treu.« Treu sicher, aber unter welchen Qualen. Verzichten müssen.
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