Das heilige Buch der Werwölfe
nachvollziehen, wenn erst ein Rottweiler sich knurrend auf eine aparte rothaarige Joggerin stürzt und alle Rüden, die zwei Köpfe größer als dieser Rottweiler sind, ihn plötzlich für eine zärtliche, großäugige, oberläufige Hündin halten.
Der Entschluss, Alexander mit auf die Jagd zu nehmen, hatte nichts mit Prahlsucht zu tun. Die Transformation eines Werfuchses während der Hühnerjagd bleibt zurück hinter dem, was einem Werwolf widerfährt. Kein Grund, sich damit zu brüsten. Doch ich dachte, wenn der supraphysikalische Schub vor Alexanders Augen geschah, war das die beste Art, ihm zu sagen: Du und ich, wir sind vom selben Blut. Vielleicht, dass das die Reste von Misstrauen zwischen uns zum Schmelzen brachte und für weitere Annäherung sorgte – so mein vages Kalkül.
Den Ort, an dem die Jagd stattfinden sollte, hatte ich schon vor längerem ausgeguckt. Einer der Wege, die sich durch den Bitza-Park schlängelten, stieß auf ein am Waldrand stehendes Holzhaus, in dem der Forsthüter wohnte. (Ob diese Bezeichnung ganz zutreffend ist, weiß ich nicht, jedenfalls band den Mann irgendeine Dienstpflicht an diesen Park.) Neben dem Haus gab es einen Hühnerstall, was in Moskau heutzutage eine große Seltenheit ist. Ich hatte ihn irgendwann bei einem Fahrradausflug entdeckt; nun beschloss ich meine Entdeckung zu nutzen. Zuvor aber musste ich die Situation dort noch einmal prüfen und die Rückzugswege abstecken. Ich nahm mir einen ganzen Tag Zeit für eine Erkundungstour per Fahrrad und gelangte zu folgenden Erkenntnissen:
1. Es gab Hühner im Stall und Leute im Haus; die wesentlichen zwei Komponenten für die Aktion waren also vorhanden.
2. Die Flucht hatte über einen in den Wald führenden Weg zu erfolgen.
3. Die Verfolger mussten abgeschüttelt sein, bevor dieser Weg auf der anderen Seite wieder aus dem Wald herausführte – am jenseitigen Waldrand gab es viele Spaziergänger, meist junge Mütter mit Kinderwagen.
Ferner entdeckte ich, wie man mit dem Auto fast ganz bis an den Hühnerstall herankam. Das Forsthäuschen schien nur auf den ersten Blick im Wald versteckt zu liegen, schon dreihundert Meter dahinter fing die Stadt an: eine Reihe sechsstöckiger Plattenbauten, hart an der Waldgrenze. Die Adresse des dem Hühnerstall nächstgelegenen Hauses hatte ich notiert. Alles war bereit, die Jagd konnte beginnen.
Und noch ein weiteres Ergebnis hatte die Erkundungstour gebracht. Ich war auf dem Rückweg eine unbekannte Route gefahren und an einen erstaunlichen Ort geraten, wo ich nie zuvor gewesen war. Es handelte sich um eine größere Brachfläche, beinahe ein Feld; nach der einen Seite, zu einem kleinen Wasserlauf hin abschüssig; allseits von Wald umgeben. Über die Fläche liefen mehrere kleine Pfade, und an der Hangseite zum Flüsschen hin befand sich eine Sprungrampe für Biker: eine steile Erdaufschüttung, die von vielen Reifen zerfahren war. Ich traute mich nicht zu springen, fuhr nur vorsichtig bis an den Rand und stellte mir vor, wie es war, hier mit Karacho runterzudüsen und durch die Luft zu fliegen. An eine glückliche Landung konnte ich für mich nicht recht glauben.
Unweit der Rampe fand sich eine sonderbare Skulpturengruppe. Mehrere graue Holzbalken verschiedener Länge waren in die Erde gegraben, die geglätteten oberen Enden trugen die Gesichter von Kriegern. Die Holzsoldaten standen dicht beieinander, um sie herum zog sich ein Kreis aus grob und stabil gezimmerten Sitzbänken, unterbrochen von vier nach Norden, Westen, Süden und Osten ausgerichteten Toren: zwei Balken längs, einer quer darüber, ebenso grob, grau und rissig. Das Ganze wirkte wie ein hölzernes Stonehenge, verschlissen im Kampf gegen die Ewigkeit; etliche Balken waren angekokelt von den Lagerfeuern, die die Cliquen aus dem Umkreis anscheinend mittendrin errichteten. Doch ungeachtet der Brandstellen und der vielen leeren Bierflaschen war dem Objekt ein Anflug von Schönheit eigen, wohl gar von Größe und Erhabenheit.
Ich setzte mich auf einen der Balken, starrte auf den roten Sonnenball (solche Sonnenuntergänge gibt es in Moskau nur im Monat Mai) und driftete mit den Gedanken in die Vergangenheit. Ich musste an einen Menschen denken, die Begegnung mit ihm lag mehr als tausend Jahre zurück: Man nannte ihn den Gelben Herrn, weil sein Kloster auf dem Gelben Berg stand. Nur eine Nacht lang währte damals unser Gespräch, doch es blieb mir in Erinnerung – ich musste nur die Augen schließen, schon sah
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