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Das heilige Buch der Werwölfe

Das heilige Buch der Werwölfe

Titel: Das heilige Buch der Werwölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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ich das Gesicht des Gelben Herrn zum Greifen nah und deutlich vor mir. Und wie vielen Menschen war ich seither begegnet, tagein, tagaus – nicht der Schatten von ihnen hatte sich im Gedächtnis erhalten … Auch Schwesterlein I hatte den Gelben Herrn gekannt, fiel mir ein.
    Ob sie sich gut an ihn erinnerte? Ich musste sie danach fragen.
    In dem Moment klingelte mein Handy.
    »Hallo?«
    »Grüß dich, Rotschwänzchen.«
    Ich traute meinen Ohren nicht.
    »I, Schwesterlein? Das ist ja nicht zu fassen! Gerade eben habe ich an dich gedacht …«
    »Davon hat mir der Schweif gejuckt!«, lachte sie. »Ich bin in Moskau.«
    »Wo bist du abgestiegen?«
    »Im Hotel National. Hast du morgen um eins schon was vor?«
     
    Ich befürchtete, am Einlass vom National Probleme zu bekommen, doch keiner der Typen von der Security beachtete mich. Vielleicht lag es daran, dass ein Fräulein von der Rezeption, das wie eine SS-Scharführerin aussah, mit dem Schild Valued Guest of Lady Cricket-Taylor auf mich wartete; sie geleitete mich zu einem der Luxus-Appartements. Fehlte nur noch Ehrenwache und Orchester.
    Bei meinem Eintreten saß I Huli auf dem gestreiften Diwan des Wohnzimmers. Mir kam der quälende Verdacht, in diesem Zimmer schon mal mit einem Kunden zugange gewesen zu sein, Geschäftsmann aus Südkorea vielleicht oder arabischer Waffenhändler. Es konnte aber auch an dem gestreiften Diwan liegen, solche gab es hier in vielen Zimmern. Als die Schwester mich erblickte, sprang sie auf, und wir umarmten uns zärtlich. Plötzlich hielt sie eine Plastiktüte in den Händen.
    »Das ist für dich«, sagte sie. »Erlesen, wenn auch nicht teuer.«
    In der Tüte steckte ein T-Shirt mit Union Jack und dem zweisprachigen Aufdruck
     
    КОКНИ
    COCKNEY
     
    »Das kriegt man in London zu kaufen«, sagte sie. »In allen Sprachen. Aber auf Russisch kommt es besonders nett. 7 «
    Sie kicherte. Ich konnte nicht an mich halten und lachte mit.
    I Huli sah noch ganz genauso aus wie anno neunundzwanzig, als sie aufgrund von Kontakten zur Komintern, die damals in Mode war, öfters nach Russland kam. Höchstens der Haarschnitt schien noch ein wenig kürzer. Gekleidet war sie wie immer unnachahmlich.
    In den letzten tausend Jahren war I Hulis Stil unverändert geblieben: extrem radikal in der Sache, utilitär-minimalistisch an der Oberfläche. Ich beneidete sie um ihren kühnen Geschmack – immer war sie der Mode um einen halben Schritt voraus. Mode hat ihre Zyklen, und im Laufe der Jahrhunderte entwickelte Schwesterlein I sich zur professionellen Wellenreiterin, die auf den Höhen dieser Zyklen dahinsegelte; immer wieder brachte sie das Wunder zustande, just an dem Punkt zu sein, dessen Koordinaten die Modemacher gerade vorauszusehen bemüht waren.
    Diesmal trug sie eine frappierende Weste, die aussah wie ein überdimensionaler Patronengürtel – mit einer Vielzahl aufgesetzter bunter Taschen, gestickten arabischen Schnörkeln und der Aufschrift Ka-Boom! in Orange. Eine Variation auf das Thema Sprengstoffgürtel – wie ihn ein libertinärer japanischer Modegestalter entworfen hätte. Zugleich war das Ding überaus praktisch: Wer eine solche Weste hatte, brauchte bestimmt keine Tasche mit sich herumzutragen.
    »Ist das für London nicht ein bisschen kühn?«, fragte ich. »Ich meine, hat sich noch keiner darüber empört?«
    »Bewahre! Der Engländer verwendet all seine Geisteskraft auf die Scheinheiligkeit. Für Intoleranz bleibt da nicht viel.«
    »Ist es wirklich derart finster?«
    Sie winkte ab.
    »Das englische Wort für Heuchelei ist hypocrisy. Ich wäre dafür, einen neuen Begriff einzuführen: hippopocrisy – von Hippopotamus. Um den Maßstäben des Problems gerecht zu werden.«
    Ich kann es nicht leiden, wenn man ganze Nationen schlechtmacht. Das tun meiner Meinung nach nur Loser oder Leute, die ein schlechtes Gewissen haben. Einen Loser konnte man Schwesterlein I wahrlich nicht nennen. Aber was das Gewissen anbetraf …
    »Warum gehst du nicht mit gutem Beispiel voran und lässt das Heucheln sein?«, fragte ich.
    »Das wäre blanker Zynismus. Fragt sich, was schlimmer wäre. Jedenfalls ist es in der Kammer dunkel und feucht.«
    »Was denn für eine Kammer?«
    »Ich meine die englische Seele. Sie erinnert mich an eine Abstellkammer. Oder wie soll man das genauer übersetzen: closet? Die besten Engländer versuchen ihr Leben lang da herauszukommen, aber es gelingt ihnen für gewöhnlich erst in der Stunde ihres Todes.«
    »Woher willst du

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