Das heilige Buch der Werwölfe
benötigt – ohne kommt es nicht zur Transformation. Und es ist sehr wichtig, dass es bis zuletzt am Leben bleibt – stirbt es, erlangen wir unser menschliches Aussehen viel zu schnell zurück. Darum sollte die Wahl auf ein möglichst gesundes und kräftiges Tier fallen.
Während ich mich dem Hühnerstall näherte, sah ich zum Haus des Forsthüters hinüber. Die Sonne spiegelte sich in den Scheiben, sodass ich nicht erkennen konnte, ob dahinter jemand war. Doch es befanden sich Leute im Haus. Aus der offenen Tür drang Musik. Gesetzte Männerstimmen, ein kleiner Mönchschor vielleicht: »Nacht kommt herzu … Himmlische Ruh … Gott hält die Hand übers schlafende Land …«
Ich hatte keine Zeit zu verlieren.
Der Hühnerstall war eine Bretterbude mit einem Schrägdach aus Sperrholz, darüber eine Abdeckung aus Kunststoff. Ich schob den Riegel zurück, zog die über den Boden schleifende Tür auf – und konnte in dem stinkenden Halbdunkel sogleich meine Beute ausmachen. Ein braunes Huhn, an den Seiten weiß. Während alle übrigen Hühner auseinanderstoben, blieb es als Einziges hocken. Scheint auf mich gewartet zu haben! dachte ich.
»Put-put-put!«, machte ich mit rauer, unaufrichtiger Stimme, beugte mich schnell nach vorn und griff zu.
Das Huhn erwies sich als friedlich. Ruckte nur einmal, um den eingeklemmten Flügel zu richten, hielt dann still. Wie immer in diesen Momenten schien es mir, als verstünde das Tier sehr wohl, was gespielt wurde und welche Rolle ihm dabei zukam. Ich presste es gegen meine Brust und trat den Rückzug an. Ein Schuh blieb mit dem Absatz im Boden hängen, knickte um und rutschte vom Fuß. Ich schleuderte den zweiten hinterher.
»He, Mädel!«, ertönte eine Stimme.
Ich hob den Kopf. Auf den Stufen vor der Haustür stand ein Mann um die fünfzig in verschlissener Arbeitsjacke, mit buschigem Hängeschnauzer.
»Was tust du da?«, fragte er. »Hast du sie noch alle?«
Hinter dem Mann trat ein rotbackiger Bursche aus dem Haus, um die dreißig, auch er mit Schnauzbart – anscheinend der Sohn. Er trug einen blauen Trainingsanzug mit den Großbuchstaben ZSKA . Beide waren sie viel zu massig, um Schnellläufer zu sein, wie ich sogleich registrierte.
Der Moment der Wahrheit nahte. Ich schaute sie an mit einem Mona-Lisa-Lächeln und zog den Reißverschluss an meiner rechten Seite auf, sodass das Kleid nur noch vom linken Träger gehalten wurde. Mühelos schlüpfte ich heraus, ließ es zu Boden gleiten. Nun trug ich nur noch ein kurzes orangenes Flatterhemd mit viel Bewegungsfreiheit. Ein angenehmer Windhauch umspielte meinen halbnackten Körper.
Ein dritter Augenzeuge war aus dem Haus getreten: ein Knabe von vielleicht acht Jahren, mit einem Plastikschwert in Händen. Ohne jedes Zeichen von Verwunderung starrte er herüber: Wahrscheinlich hielt er mich für dem Fernseher entsprungen, und da hatte er schon ganz anderes gesehen.
»Schämst du dich gar nicht?«, fragte das hängeschnauzbärtige Familienoberhaupt.
Das traf ins Schwarze. Die Scham erfüllte mich bereits bis zu den Haarwurzeln. Scham war zu wenig gesagt: Ich verabscheute mich. Fühlte mich im Epizentrum aller Schmach der Welt. Nicht bloß die gekränkten Hühnerbesitzer schauten auf mich, nein, ganze Himmelshierarchien, Myriaden geistiger Wesen blickten mit Wut und Verachtung aus ihren unzugänglichen Welten herüber. Ich tat die ersten Schritte vom Hühnerstall weg.
Vater und Sohn wechselten einen Blick.
»Lass das Huhn los«, sprach der Sohn und kam die Stufen herab.
Der Knabe mit dem Schwert riss den Mund auf, die Sache versprach lustig zu werden. Ich aber wusste – und das nicht mehr nur mit dem Kopf, nein, mit dem ganzen Körper, bis in die letzte Faser hinein dass es aus dem Kokon meiner unerträglichen Schande nur einen einzigen Ausweg gab: Es war der Weg, der in den Wald führte. Also drehte ich mich um und rannte los.
Altes weitere lief nach Schema F. Die ersten Schritte waren schmerzhaft wegen der Äste und Steine, die sich in die nackten Sohlen bohrten. Doch schon nach wenigen Sekunden setzte die Transformation ein. Als Erstes spürte ich, wie es mir die Finger zusammenzog. Das Huhn festzuhalten wurde schwieriger, ich musste es nun mit aller Kraft gegen die Brust pressen und dabei aufpassen, dass ich ihm nicht versehentlich die Luft abdrückte. Dann ließ der Schmerz in den Sohlen urplötzlich nach, weitere Sekunden später fegte ich schon auf drei Beinen dahin, und es machte mir überhaupt nichts
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