Das heilige Buch der Werwölfe
gleich zu bemerken gewesen, doch je länger er heulte, desto mehr spürte ich sie, und gegen Ende seiner Arie saß mir bereits ein unangenehmer Kloß in der Kehle.
Das Heulen brach ab, ich ließ das Fernglas sinken und sah, dass kein Wolf mehr auf dem Hügel stand, an seiner statt kauerte dort Michalytsch auf allen vieren. Im Scheinwerferlicht erschien er überdeutlich – noch die kleinste Falte seines Uniformmantels war zu erkennen. Trotz der Kälte perlte ihm der Schweiß vom Gesicht. Er erhob sich, kam langsam herunter.
»Und?«, fragte er, bei uns angekommen.
Der Offizier hob das Funkgerät ans Ohr, horchte kurz, nahm es wieder herunter.
»Keine Veränderungen«, sagte er.
»Das kommt, weil wir die Schicht hier schon zum fünften Mal anzapfen«, sagte Michalytsch. »Das zweite Mal klappt es bei mir immer. Beim dritten meistens auch noch. Aber fünfmal … Da fragt man sich, was man eigentlich noch bezweckt mit seinem Geheul.«
»Wir müssen uns was ausdenken, Leute«, sagte der Offizier in besorgtem Ton. »In der Branche läuft an fast allen Sonden die vierte Runde. Wenn wir in der fünften nichts mehr flott kriegen, haben die Atlantisten in zwei Jahren ein Homeland aus uns gemacht. Hast du eine Idee, Alexander?«
Alexander war aufgestanden.
»Sehen wir mal«, sagte er, den Blick aus halb zugekniffenen Augen auf den Schädel gerichtet als schätzte er die Entfernung ab. Dann lief er den Hang hinauf. Auf halber Strecke warf er den Mantel von den Schultern, der mit ausgebreiteten Ärmeln in den Schnee fiel.
Er geht wie Puschkin zum Duell! kam mir der Gedanke, den ich, mit einem Blick auf den Uniformmantel im Schnee, korrigierte: vielleicht auch wie d'Anthes …
Beim Stab angekommen, legte Alexander behutsam die Hände an den Schädel und drehte ihn um hundertachtzig Grad, sodass er nun genau in meine Richtung sah – ich konnte im Fernglas die leeren Augenhöhlen sehen und über der einen die Metallklammer, die einen Riss zusammenhielt. Dann kam Alexander denselben Weg wieder heruntergelaufen. Auf Höhe seines Mantels blieb er stehen, hob den Kopf himmelwärts und heulte.
Angestimmt hatte er das Geheul noch als Mensch, im Heulen aber wurde er noch schneller zum Wolf als per geschlechtlicher Erregung. Er schwankte kurz, ging ins Hohlkreuz und fiel nach hinten auf den im Schnee liegenden Mantel. Die Transformation ging so rapide vor sich, dass er im Aufprallen schon beinahe ganz Wolf war. Ohne dass das Geheul auch nur einen Moment aussetzte, wälzte dieser Wolf sich sekundenlang im Schnee, sodass eine weiße Wolke aufstob, dann sprang er auf die Pfoten.
Im Vergleich zum fassförmig-feisten Michalytsch stach ins Auge, wie gut Alexander aussah. Er war ein edles und gefährliches Tier; eines, das die Götter des Nordens sehr wohl das Fürchten lehren konnte. Sein Geheul aber war weniger grausig als das von Michalytsch. Es klang leiser, eher traurig als drohend.
»Bunte Kuh! Kannst du mich hören, bunte Kuh? Ich weiß, man muss schon sehr schamlos sein, um dich ein neues Mal um Öl zu bitten. Ich bitte auch gar nicht. Wir haben es nicht verdient. Ich weiß, du machst dir deine Gedanken über uns. Denen kann man noch so viel geben, denkst du, Chawroschetschka kriegt doch keinen Tropfen davon ab, alles fließt in den Rachen dieser Kukis-Jukies, Juxi-Puxies und wie dieses ganze Geschmeiß sich nennt, das einem die Luft und die Sonne nimmt. Du hast Recht, bunte Kuh, so wird es kommen. Aber hör mal … Ich weiß doch, wer du bist. Du bist all die, die früher hier waren. Eltern, Großeltern, Urgroßeltern und die davor und noch davor … du bist die Seele all jener, die gestorben sind im Glauben an ein Glück, das eines künftigen Tages kommen wird. Und nun ist die Zukunft eingetreten. In der die Menschen nicht mehr für ein höheres Ziel leben, sondern nur für sich selbst. Und kannst du dir vorstellen, wie das ist, nach Erdöl riechende Sashimi zu schlingen und so zu tun, als merkten wir nicht, wie unter unseren Füßen die letzten Eisschollen tauen? So zu tun, als wäre dies hier der Ort, zu dem hin tausend Jahre lang ein Volk unterwegs war, das in uns sein Ende nimmt? Wenn man es recht bedenkt, hast du als Einzige wirklich gelebt, bunte Kuh! Denn du wusstest, für wen, im Unterschied zu uns … du hattest uns, wir haben niemanden außer uns selbst. Jetzt, aber geht es dir genauso mies wie uns, weil es dir nicht mehr gegeben ist, für deine kleine Chawroschetschka als Apfelbaum zu sprießen. Dir bleibt
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