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Das helle Gesicht

Das helle Gesicht

Titel: Das helle Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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Greyhound-Bus-Gesellschaft; es lag am Kreuzungspunkt dreier Linien.
    Ite-ska-wih konnte mit Appetit ein kleines Lunch essen. Ball begann ihr zu berichten, daß er zuerst zu dem Schulinternat fahre, in dem Mary untergebracht war. Es sei das relativ bessere, es werde dort weniger Ärger geben. Sei das Mädchen erst befreit, so würde man mit Harrys scheußlichem Schulgefängnis leichter fertig werden.
    Ja, er gebrauchte die Wörter »befreit« und »scheußlich«. Ite-ska-wih war erstaunt, wie verschieden Weiße sich verhielten, selbst wenn sie gleichermaßen als Lehrer tätig waren. Sie dachte dabei plötzlich an Percivals Vater und an die Killer. Auch nicht alle Indianer waren sich gleich an Charakter. Nicht mehr. Früher hatte eine festere Gemeinschaft sie gemeinsam gut erzogen – pflegte Untschida zu sagen.
    Nachmittags war das Ziel erreicht.
    Diese Boardingschool hatte noch nicht eines der neuen Gebäude erhalten, aber sie sah auch nicht abschreckend aus.
    Ite-ska-wih wollte im Wagen bleiben, doch Ball bat sie mitzukommen. Sie sei geeignet, einen guten Eindruck zu machen, sauber und hübsch, wie sie angezogen war. »Nach Möglichkeit nutzt du eine Gelegenheit zu zeigen, wie fließend du englisch sprichst. Bescheiden bist du von Natur.«
    Ite-ska-wih lächelte ein wenig.
    »Stimmt doch?«
    »Wenn ich nicht zu Karate übergehe.«
    »Oho! Habe davon gehört. Aber das ist hier noch nicht nötig.«
    Das Tor wurde geöffnet. Es war die Zeit der Beendigung des Spielunterrichts, der in der jetzigen Ferienzeit den Schulunterricht mit gleich strenger Ordnung ersetzte. Die Kinder dieses Strafinternats durften auch in den Schulferien nicht nach Hause; sie sollten mit ihren Familien keinen Kontakt haben. Die Mädchen und Jungen kamen in streng geordneten Reihen aus den Klassen, um in den Speisesaal zu gehen.
    Ball und Ite-ska-wih wurde eine Lehrerin zugeteilt, die sie zum Direktor führen sollte. Ball zuckte auf einmal zusammen und wollte schon die Hand grüßend heben, als er das eben noch unterließ. Ite-ska-wih begriff, daß der Lehrer seine ehemalige Schülerin Mary in einer der Reihen gesehen haben mußte. Aber es war nach den Internatsregeln ganz unpassend, ihr in diesem Augenblick etwa zuzuwinken. Auch das Kind hatte kein Zeichen des Wiedererkennens gegeben.
    Der Direktor war verhältnismäßig jung, kaum über Dreißig. Er zeigte sich orientiert, hatte den schriftlichen Bescheid, die Überstellung Marys in das kleine Reservationsinternat betreffend, auf seinem Schreibtisch liegen und fragte nur:
    »Wann wollen Sie die Schülerin mitnehmen? Sofort?«
    Dieser Direktor war diensteifrig; im vorliegenden Falle wirkte sich das günstig aus.
    »Tatsächlich, sofort, das ist das zweckmäßigste.«
    »Gut.«
    Der Direktor gab telefonisch Bescheid, die Sachen von Mary King und die Schülerin selbst zu ihm zu bringen.
    Das geschah.
    Da stand sie nun, ein Köfferchen in der Hand. Sie trug schon keine Schulkleidung mehr, sondern ihr eigenes Kleid. Für ihr Alter war sie groß. Zwei dicke Zöpfe, offensichtlich etwa auf die Hälfte ihrer Länge verkürzt, fielen über den Rücken. Sie war ernst und blaß und rührte sich nicht.
    »Begrüße deinen künftigen Lehrer Mister Ball!«
    »Sir!« Das Mädchen machte einen Knicks, ohne eine Miene zu verziehen.
    »Gib mir die Hand, Mary. Wir kennen uns ja. Ich nehme dich jetzt mit in unser eigenes Schulinternat.«
    Mary tat zwei Schritte zu Ball und legte ihre Hand in die seine, noch immer, ohne ein Zeichen des Erkennens oder der Freude zu geben. Ball spürte, daß die Kinderhand kalt war. Die schwarzen Augen schauten an ihm vorbei.
    Der Direktor las in Marys Akten. »Sie ist nie direkt ungehorsam, aber völlig kontaktlos, sehr verbockt. Ihre Leistungen sind recht mäßig, nur eben ausreichend zur Versetzung. Sie müssen sehen, wie Sie mit ihr fertig werden.«
    »Ja. Danke für die Unterrichtung. Mara, nimm Mary mit.«
    »Mary«, sagte diese leise und mit sanfter Stimme. »Wir freuen uns, daß du wieder zu uns kommst. Wir holen auch noch Harry ab.«
    Durch das Kind ging ein Zittern, das nur Ite-ska-wih spürte, die den Arm um Marys Schultern gelegt hatte.
    Der Inhalt von Ite-ska-wihs Worten entsprach sicherlich nicht den pädagogischen Grundsätzen des Direktors, aber Ball hatte richtig vorausberechnet: das gute Englisch bestach ihn.
    »Nimm dir ein Beispiel!« sagte er zu Mary. »So spricht man englisch.«
    »Ja, Sir.«
    Ball konnte sich verabschieden.
    Während der Wagen fuhr, kramte

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