Das Herz der 6. Armee
geschichtliches Verbrechen! Hier wird abgeschlachtet, weiter nichts. Und während sie im Radio Beethoven und Wagner und Liszt spielen, wenn der Name Stalingrad fällt, verrecken hier in den Kellern und Erdhöhlen Tausende von Menschen, verhungern, vergreisen, werden wahnsinnig, verbluten, werden vom Eiter zerfressen! – Das, lieber Sanders, ist Ihre Aufgabe, das müssen Sie denen in der Heimat erzählen. Und darum werden Sie auch ausfliegen.«
»Und Sie, Webern?«
»Ich bleibe hier und verfaule mit. Ich werde mein Kreuz jedem hinhalten und nicht fragen: Bist du katholisch … bist du evangelisch?! Im Sterben sind wir alle gleich, und im Ruf nach Gott gibt es keine Unterschiede. Oder glaubt man, Christus steht an der Pforte des Himmels und sortiert die Gläubigen?« Pfarrer Webern legte den Arm um Pastor Sanders. Es war eine Geste inniger Verbundenheit. »Gehen Sie ins Leben zurück, Sanders … eine Stimme, die von Gott spricht, genügt jetzt …«
Pastor Sanders nickte. Kurz darauf schlief er vor Erschöpfung ein. Webern und ein leicht verwundeter Soldat trugen ihn zu einem Strohsack an der Kellerwand. Er war gerade frei geworden … der junge, blonde Landser, der auf ihm gestorben war, lag jetzt im Totentrichter 7, einem großen Minentrichter, in den nach vorsichtigen Schätzungen etwa 300 Tote hineingingen. Natürlich gut gestapelt, einer neben dem anderen und über dem anderen, unter Ausnutzung des vorhandenen Platzes. Eine geballte Kompanie, noch im Verschimmeln ausgerichtet. Trichter 1 bis 6 waren schon gefüllt. Die Mühe des Zuschüttens sparte man sich … das besorgte die Artillerie, die die Trümmer immer wieder umdrehte, so wie man einen Teig durchknetete, damit sich alles in ihm gut verteilt.
Die Nacht zum ersten Weihnachtstag blieb still. Man benutzte sie dazu, Nachschub heranzuschaffen. Aus den Steppenstellungen, den Zeltlagern und Erdbunkern zwischen Gumrak und Stalingrad, Gorodischtsche und Kuperassnoje, Karpowka und Baburkin zogen die grauen Gestalten in die vorderen Stellungen. Auch die Sowjets gruppierten um. Über das Eis der zugefrorenen Wolga rollten neue Panzer heran, frische Bataillone aus Sibirien und von den Grenzen der Mandschurei, Geschütze und Werkstätten, und immer wieder Menschen … Menschen … in dicken Steppmänteln, in Schafspelzen, mit Pelzmützen, gut genährt und ausgeschlafen, siegessicher und mit Haß gegen die Deutschen bis in die Mundhöhle gefüllt. Mit ihnen kamen die Propagandafunktionäre, Volkskommissare aus den Parteischulen von Moskau und Swerdlowsk. Sie verhörten die deutschen Kriegsgefangenen und sprachen den Rotarmisten, die seit dem Sommer in den zerwühlten Straßen ihrer Stadt lagen, Mut und Siegeswillen zu. Und sie brachten zu essen mit … auf jedem Panzer, der über das Eis der Wolga donnerte, klebten Kisten mit Verpflegung, Säcke mit Bohnen und Grütze, getrocknetem Fisch und Kapusta, Mehl und Sojaschrot.
Es war der 25. Dezember 1942, der erste Weihnachtstag. Das Armee-Oberkommando gab die neue Lebensmitteleinschränkung bekannt mit dem Befehl, diese Kürzung erst am 26. Dezember bekanntzugeben, um die Weihnachtsstimmung nicht zu gefährden. Auch Dr. Portner bekam telefonisch diese neue Anweisung des Oberquartiermeisters der Armee durchgesagt und notierte sie sich.
»Hören Sie sich das an, Körner«, sagte er bitter. »Die Brotration wird auf fünfzig Gramm pro Tag beschränkt. Mittags ein Liter Suppe aus Hülsenfrüchten, abends etwas Büchsenverpflegung oder ein zweites Süppchen … Man macht sich wirklich Mühe mit unserer Speisekarte.« Er hieb mit der Faust auf den Tisch und hielt dann die Kerze fest, einen Stummel, der für den Abend ausreichen mußte. »Rufen Sie zurück, Körner: Menü à la Hungerkünstler verstanden. Fragen an, wann Hülsenfrüchte frei Haus geliefert werden. Kreuzdonnerwetter noch mal … wenn weiterhin solche Anrufe kommen, sollte man in die Hörer kotzen!«
Immerhin war an diesem Tag und in der Nacht zum 26. Dezember ein Kommen und Gehen zwischen den Trümmern, den Kellern, in den Laufgräben, von Trichter zu Trichter. Was Dr. Portner nie geglaubt hatte, wurde Wahrheit: Nachschub kam heran! Vier Kisten mit Medikamenten, von der Bäckerei sechs Säcke heiße Brote, vier Kartons mit Schmalzfleisch, ein Sack Grieß, zwei Säcke Mehl … Dr. Portner stand sprachlos vor diesen Schätzen und begriff nichts mehr.
»Wo kommt denn das her?« fragte er den Leutnant, der mit vierzig Mann dieses Schlaraffenland herangebracht
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