Das Herz der 6. Armee
hatte. »Mann – wie kommen Sie an das Paradies?«
Der Leutnant setzte sich, holte aus dem Brotbeutel eine Flasche französischen Cognac und hielt sie Dr. Portner hin. »Auch das noch!« sagte Portner entgeistert.
Der Leutnant nickte. Er war vor Schließung des Kessels aus Kalatsch ausgebrochen und hatte bis jetzt in Woroponowo Wachdienst in dem russischen Gefangenenlager geschoben. Als Bettelkurier war er oft mit einigen Lkw nach Karpowka gefahren, um Lebensmittel zu holen. Was er dort gesehen hatte, überstieg seinen Verstand.
»Wissen Sie, was in der Steppe los ist, Herr Stabsarzt? Was sich da draußen tut?« fragte er, als Dr. Portner und Dr. Körner aus der Flasche einige Schlucke Martell genommen hatten. »Sie leben hier wie die Ratten im Keller … seien Sie froh, daß Sie nichts anderes sehen als Sterbende! Da draußen verlören Sie den Verstand. Ich habe mir einiges aufgeschrieben, was ich erfahren habe. Für später … ich werde einmal, wenn wir diese Scheiße wirklich überleben, mit diesen Notizen beweisen, welche Schweine es unter uns gab, die Tausende von uns auf dem Gewissen haben, nur weil ihr Beamtengehirn an Bestimmungen denkt.« Er holte aus der Brusttasche ein kleines schwarzes Notizbuch und las daraus vor. »In Karpowka lagern seit Wochen dreiundvierzig Waggons mit Alkohol. Es war ein Sonderzug aus Oels. In diesen Waggons befinden sich dreitausendsiebenhundertvierundsechzig Kisten mit Sekt, Branntwein, Likör und Wein. Jeden Tag knallen durch die Kälte Hunderte von Sektflaschen auseinander … aber von diesen Zehntausenden von Flaschen in den dreiundvierzig Waggons wird nichts ausgegeben, weil eine Transportbestimmung noch nicht eingegangen ist! In Jassinowotaja stehen zweiunddreißig Eisenbahnwaggons mit den Weihnachtspäckchen für die 6. Armee. Dreieinhalb Millionen Päckchen sind es! Dreieinhalb Millionen! Aus der Heimat. Mit Kuchen, mit Plätzchen, mit warmen Pullovern, mit Wollsocken, mit Ohrenschützern, mit Pulswärmern, mit lieben Briefen, mit Äpfeln und Nüssen … Aber sie liegen da, wurden ausgeladen und gestapelt, mit Zeltplanen überdeckt und verfaulen … Und warum? Weil kurz vor Weihnachten die Eisenbahntruppe im Kessel mangels Brennstoff den Zugverkehr einstellte! Die Zahlmeister aber haben die Anweisung, diese Weihnachtspäckchen per Bahn zu den Truppen zu befördern! Es fährt keine Bahn … also wird nicht transportiert. Auch wenn täglich Hunderte von Lastwagen vorbeikommen, die die Päckchen mitnehmen können! Nein, das geht nicht! Das steht in keiner Bestimmung!« Erhielt die Flasche noch einmal hoch. »So, nun trinken Sie noch mal, Herr Stabsarzt. Man muß besoffen sein, um das zu begreifen! Wissen Sie, was ich getan habe? Ich habe alles, was Sie hier sehen, organisiert, aus den Lagern um Stalingrad, die zum Teil überlaufen von Material, auf dem die Zahlmeister sitzen wie brütende Glucken. Ein Tatbericht ist unterwegs … ich habe einen dieser fetten Beamten geohrfeigt und in sein Zimmer eingesperrt, bis meine Leute sich beladen hatten. Mir ist wurscht, was kommt … ich möchte den sehen, der mich deswegen hier aus den Trümmern rausholt! Und nun trinken Sie, Doktor …«
Am Abend des 26. Dezember war Knösel reisebereit. Er hatte eine schöne Zeltplane organisiert und zwei starke Männer, die unter seiner Oberleitung Pastor Sanders zum nächsten Sammelplatz tragen sollten. Die Fahrt mit dem Lkw wollte Knösel dann allein fortsetzen. In Gumrak muß es was zu fressen geben, hatte er verkündet. Und Knösel kommt nicht ohne zurück!
Nun tappte er durch die Keller des Kinos und suchte Pastor Sanders. Das Kommen und Gehen des Nachschubs und der Verwundeten erschwerte das Suchen. Sanitätsfeldwebel Wallritz sah ratlos auf den Strohsack, auf dem Pastor Sanders noch vor vier Stunden gelegen hatte. Wallritz wußte es genau, er hatte Sanders neu verbunden und ihm als erstem Sulfonamidpuder auf die Wunde gestreut, Puder, der gerade mit den Medikamentenkisten angekommen war. Nun lag ein aschgrauer Unteroffizier auf dem Strohsack; das Bein war ihm weggerissen, und das Fleisch des Schenkels über dem Verband war rotschwarz. Wundbrand, dachte Wallritz. Hoffnungslos. Aber wo ist der Pastor?
Mit Knösel rannte er von Keller zu Keller. Sie riefen den Namen Sanders, sie gingen von Körper zu Körper. Pastor Sanders war nicht mehr da.
»Warten Sie hier, Knösel«, sagte Wallritz heiser. »Ich hole den Chef.«
Auch Dr. Portner, der sofort mit Pfarrer Webern in den großen
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