Das Herz der 6. Armee
Trümmerberg lag ein Toter auf dem Rücken, steif gefroren, den Arm nach oben gereckt, als habe er noch mit dem letzten Atemzug die Sterne herabreißen wollen oder das Auge Gottes, damit es diese Qual von Hunderttausenden erkenne. Es mochte auch sein, daß er den Arm gegen eine Wand gestützt hatte, sich festkrallend, hoffend, doch noch leben zu können, bis eine neue Detonation ihm auch diesen letzten Halt raubte. Er merkte es nicht mehr, er war schon gestorben und sein Arm hoch gereckt vereist. Nun stach sie in den Nachthimmel, eine Hand, die nach Halt schrie … und jemand hatte in diese Hand eine Kerze gestellt. Sie brannte weithin sichtbar von diesem Trümmerberg, flackerte hinüber zu den Rotarmisten, die zwischen den zerfetzten Mauern lagen – ein Licht in der Schale einer Hand, deren Finger Gott um Hilfe riefen.
Es war der grausamste und treffendste Weihnachtsbaum von Stalingrad.
… Friede auf Erden … und den Menschen ein Wohlgefallen.
Im Norden der Stadt wurde noch geschossen. Durch die Ruinenwüste des Werkes ›Roter Oktober‹ rannten geduckt die pelzmützigen Rotarmisten. Unter verbogenen Eisenträgern hervor ratterten die MGs. Hier ging es um Meter, um eine Hallenecke, um eine zerrissene Maschine, um die Breite eines Deckenträgers … die Perfektion eines Wahnsinns.
»Ich gehe nicht«, sagte Pastor Sanders und lehnte sich gegen Pfarrer Webern. »Sie werden es verstehen, nicht wahr?«
»Nein, lieber Amtsbruder«, sagte Webern. Sanders drehte mühsam den Kopf zu ihm.
»Wir haben doch die Pflicht, als Seelsorger –«
»Sie haben diese Pflicht erfüllt, Sanders. Nun ist es Ihre Pflicht, zu überleben … Sie haben eine Familie, Sie haben eine Frau und drei Kinder …«
»Ich bleibe bei meinen Jungs!« Pastor Sanders Kopf fiel auf Weberns Schulter. Er atmete röchelnd, in der zerschossenen Schulter bohrte der Schmerz. Es war, als läge sie in glühender Asche. Wallritz hatte ihm nur die Hälfte der schmerzstillenden Injektion geben können. Sparen, hatte Dr. Portner gesagt. Auch beim Pfarrer! Der Tag war auszurechnen, an dem es überhaupt keine Medikamente mehr gab. Die Kisten, die man auf dem Flugplatz Gumrak aus der Ju 52 auslud, blieben auf dem Weg in die Stadt irgendwo liegen … schon in Gumrak selbst, wo zehntausend Verwundete herumlagen und verfaulten. Die Sanitätskisten, die wirklich verladen wurden, kamen bis an den Stadtrand. Dort waren die großen Krankensammelstellen, die alles aufnahmen, was aus den Trümmern Stalingrads nach hinten gekrochen kam. Was hier übrigblieb an Medikamenten, nahmen Melder oder Kuriere mit in die Hölle. Ein Bruchteil dessen, was jeden Tag in Gumrak landete. Es half nichts, daß Dr. Portner tobte, daß außer ihm die anderen Kellerlazarette Alarm schrien und bei den Divisionsstäben anriefen … die Heeresoberapotheker meldeten ihre Listen, legten die Zahl der eingeflogenen Kisten vor, die Transportpapiere, die quittierte Auslieferung … mehr konnte man nicht tun. Was jenseits der Schreibstuben vor sich ging, entzog sich der Kontrolle der Beamtenschaft. Es war genug, daß man selbst seine Pflicht gewissenhaft erfüllte.
Der Schmerzanfall verflog. Pastor Sanders wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Die vereiste Uniform taute auf, er lag in einer Pfütze von Schneewasser, in seinen Stiefeln staute es sich und weichte die Füße auf.
»Sie bleiben doch auch, Webern …«, sagte er mit knirschenden Zähnen.
»Ich habe keine Familie. Meine Familie sind meine Gläubigen.« Pfarrer Webern nestelte die Feldflasche von seinem Koppel und setzte sie Pastor Sanders an die zitternden Lippen. »Trinken Sie noch mal. Eine Fingerspitze Tee in Schneewasser … aber ein Schuß Wodka ist drin. Wir fanden ihn im Brotbeutel eines toten Russen. Im übrigen sollten wir jetzt nüchtern denken, lieber Amtsbruder. Sie haben die Chance, ausgeflogen zu werden. Sie werden in das Leben zurückkehren. Und das ist Ihre Pflicht! Nicht allein gegenüber Ihrer Frau und den Kindern, sondern auch uns gegenüber. Verlassen Sie dieses Massengrab, überleben Sie … und dann reden Sie! Erzählen Sie denen in der Heimat von Wolga und Don und wie es hier aussieht! Schreien Sie hinein in die Sendungen des Großdeutschen Rundfunks: Nein! Das ist kein Heldenkampf mehr … das ist ein Hinmorden von dreihunderttausend deutschen Landsern und ebenso vielen russischen Vätern und Söhnen! Das ist keine Gotenschlacht – wenn ich dieses Wort schon höre! –, sondern ein Verbrechen, ein
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