Das Herz der Hoelle
dass Luc bereits an seiner Dissertation schrieb. Er entwickelte irgendwelche aberwitzigen Thesen über die Schattenseite der Welt. Eine Art Anthologie des universellen Bösen.
»Nimm die Psychoanalyse«, sagte er, während er an seiner Zigarette zog. »Womit beschäftigt sie sich? Mit unseren finsteren Begierden, unseren verbotenen Wünschen, unserem Zerstörungsdrang. Oder der Kommunismus. Eine ursprünglich glänzende Idee. Und was wurde daraus? Der größte Völkermord des Jahrhunderts. Was immer man tut, was immer man denkt, man stößt auf jenen Teil in uns, der verdammt ist. Das 20. Jahrhundert zeigt dies besonders deutlich.«
»Du könntest jede menschliche Errungenschaft auf diese Weise deuten. Das ist viel zu einfach.«
Luc zündete sich eine neue Zigarette an seinem Stummel an:
»Aber das ist das allgemeine Muster. Die Weltgeschichte ist nichts als ein Kampf zwischen zwei Kräften. Aufgrund einer seltsamen Kurzsichtigkeit will uns das Christentum, das dem Bösen überhaupt erst einen Namen gegeben hat, weismachen, dass es sich um ein zweitrangiges Phänomen handelt. Aber man gewinnt nichts, wenn man seinen Feind unterschätzt!«
Ich war beim Büro angekommen. Ich ging die erste Stufe hinauf und fragte gereizt:
»Was willst du beweisen?«
»Trittst du nach deiner Promotion ins Priesterseminar ein?«
»Schon während der Promotion. Nächstes Jahr möchte ich nach Rom gehen.«
Ein krampfhaftes Lächeln verzog sein Gesicht.
»Ich sehe dich schon in einer halb leeren Kirche predigen, vor einer Handvoll alter Leute. Ein sicherer, bequemer Weg, den du da einschlägst. Du kommst mir vor wie ein Arzt, der eine Klinik sucht, in der nur Gesunde liegen.«
»Was willst du?«, schrie ich plötzlich. »Soll ich Missionar werden? Soll ich in den Tropen Animisten bekehren?«
»Das Böse«, erwiderte Luc ruhig, »ist das Einzige, was von Bedeutung ist. Gott zu dienen heißt, das Böse zu bekämpfen. Es gibt keinen anderen Weg.«
»Was wirst du tun?«
»Ich gehe an die Front, dem Teufel in die Augen schauen.«
»Du lässt das Priesterseminar sausen?«
Luc zerriss seine Immatrikulationsunterlagen:
»Na klar, und auch meine Doktorarbeit. Ich hab dich reingelegt. Ich denk nicht im Traum daran, hier ein weiteres Jahr abzuhängen. Ich bin nur gekommen, um eine Bescheinigung abzuholen.«
»Eine Bescheinigung? Wofür?«
Luc öffnete die Hände. Die Papierfetzen flogen davon und fielen zwischen die welken Blätter.
»Ich fahre in den Sudan. Mit den Weißen Brüdern, als Laienmissionar. Ich möchte Krieg, Gewalt und Not entgegentreten. Die Zeit der Reden ist vorbei. Jetzt geht es darum zu handeln!«
KAPITEL 6
Ich kannte den Weg nach Vernay in- und auswendig. Zuerst die A6, Porte de Châtillon, Richtung Nantes-Bordeaux, die A10 nach Orléans, dann die An, den Verkehrsschildern in Chartres nach.
Die Autos rasten dahin, aber der Regen dämpfte ihre Scheinwerfer, die schmale Striche aus Licht aussandten. Um 7 Uhr morgens war es immer noch finster.
Ich dachte über die Informationen nach, die ich an diesem Morgen zusammengetragen hatte. Nachdem ich in der Nacht mehrfach aufgewacht war, war ich um 4 Uhr früh endgültig aufgestanden. Ich hatte die vier schicksalhaften Buchstaben »KOMA« in Google eingegeben. Die Ergebnisliste umfasste Tausende von Artikeln. Um einen Schimmer von Hoffnung in meine Recherche zu bringen und sie zugleich einzugrenzen, hatte ich ein weiteres Wort hinzugefügt: AUFWACHEN.
Zwei Stunden lang hatte ich Berichte über spontan aufgewachte Koma-Patienten, über die allmähliche Rückkehr ins Bewusstsein und auch über Erfahrungen mit dem nahenden Tod gelesen. Die Häufigkeit dieses Phänomens hatte mich überrascht. Von fünf Infarkt-Opfern, die vorübergehend ins Koma fielen, hatte wenigstens eines eine »Nahtod-Erfahrung«, die zunächst mit dem Gefühl einherging, den eigenen Körper zu verlassen, und dann mit der Vision eines langen Tunnels mit einem strahlend weißen Licht am Ende, das viele mit Christus gleichsetzten. Hatte Luc dieses helle Licht gesehen? Würde er eines Tages wieder aufwachen, um es uns zu erzählen?
Ich fuhr an der Kathedrale von Chartres mit den asymmetrischen Turmspitzen vorbei. Die Ebene der Beauce erstreckte sich bis zum Horizont. Ich spürte ein Kribbeln in den Händen – ich näherte mich dem Haus in Vernay. Mit immer
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