Das Herz der Hoelle
hielt.
Ich klickte auf den zweiten Namen der Liste. Das Foto eines Freskos. Der Legende zufolge schmückte diese Serie von Zeichnungen die Grabkammer einer Königin in Napata, einer am Nil gelegenen heiligen Stadt im Nordsudan. Die Kultur der Kuschiten war um das 6. Jahrhundert v. Chr. im Schatten der ägyptischen Kultur entstanden. Im Kommentar hieß es, dass die Dynastien dieser Herrscher, die den Beinamen »Schwarze Pharaonen« trugen, noch weitgehend unerforscht seien. Aber vom Standpunkt der »Lichtlosen« war die Botschaft dieses Freskos unmissverständlich.
Man erkannte eine liegende schwarze Frau, aus der eine zweite, kleinere Frau herauskam. Eindeutiges Symbol: Das Verlassen des Körpers. Die zweite Silhouette schritt durch einen dunklen Gang, in dem, mit deutlicheren Strichen, Gesichter gezeichnet waren. Ein roter Wirbel, eine Art Siphon, am Ende des Gangs mündete in ein schwarzes Auge.
Ich ging über zum dritten Dokument. Die Zeugnisse der »Lichtlosen« waren zusammen mit der Kunst und der Schrift aufgetaucht. Vielleicht würde man eines Tages eine Felsmalerei finden, auf der die verhängnisvolle Erfahrung dargestellt war … Der neue Text war ein Palimpsest: Der griechische Text war ausgekratzt worden, um für einen auf Latein abgefassten Auszug aus den Römerbriefen des Apostels Paulus Platz zu schaffen. Die Anfangszeilen des rekonstruierten Originaltexts stammten aus dem 1. Jahrhundert v. Chr.
Zunächst versuchte ich, das Fragment in der Originalsprache zu lesen, aber meine Kenntnisse des Altgriechischen waren begrenzt. Daher hielt ich mich an die Übersetzung in modernem Italienisch. Der Text erzählte die Geschichte eines scheintoten Mannes, der beinahe in Tyros beigesetzt worden wäre und im letzten Moment wiedererwachte. Der Mann schilderte seine Erfahrung im Nichts:
» Ich sah keinen der Gegenstände mehr, die ich einst tagtäglich sah, sondern ein ungeheuer tiefes Tal. Auf dem Grund gewahrte ich Gesichter und Schreie … «
Ich konnte nicht alle Dokumente öffnen – die Liste war lang, und die Zeit drängte. Ich fuhr mit dem Cursor nach unten und klickte auf die zweite Zeile und übersprang mehrere Jahrhunderte. Die Reproduktion eines Holzfreskos aus der Mönchskapelle in Sercis-la-Ville (Saône-et-Loire) aus dem 10. Jahrhundert. Eine Darstellung des Wunders des heiligen Theophil in mehreren Vignetten. Ich kannte die Legende, die im Mittelalter sehr populär gewesen war. Die Geschichte eines Verwalters in Kleinasien, der seine Seele dem Teufel verkauft hatte. Von Gewissensbissen geplagt, hatte der Mann zur Jungfrau Maria gebetet, die Satan den Vertrag abnahm und dem reuigen Sünder zurückgab, worauf er zum Heiligen wurde.
Dieses Fresko zeigte Theophil nicht wie auf den üblichen Darstellungen des Zwiegesprächs mit Satan, wie er den Vertrag mit seinem Blut schrieb. Vielmehr schwebte Theophil hier mit geschlossenen Augen über einem mit Gesichtern tapezierten Gang in der Luft. Am Ende des Gangs war ein verzerrtes, durchfurchtes Gesicht zu sehen, das in einem Wirbel auslief. Kein Zweifel: Der Künstler hatte sich von einer negativen Nahtod-Erfahrung inspirieren lassen, die er selbst erlebt hatte oder die ihm berichtet worden war.
Ich übersprang abermals mehrere Auszüge und blieb bei einem Gedicht aus dem 14. Jahrhundert hängen, das von einem gewissen Villeneuve, einem Schüler Guillaume de Machauts, stammte. Villeneuve, Dichter und Wissenschaftler am Hof Karls V. und später Karls VI., wäre nach einem Sturz vom Pferd beinahe lebendig begraben worden. Er war am Tag seiner Beisetzung wieder erwacht und hatte nicht über seine Erfahrung sprechen wollen. Doch in einem seiner Gedichte findet sich die folgende auffällige Stelle, die von den Schreibern des Vatikans aus dem Französischen von damals ins entsprechende Italienisch übersetzt worden war:
»… ich kenne finstre Orte
ohne Helligkeit, ohne Licht
nicht Himmel nicht Limbus noch Hölle
meine Seele löst sich vom Körper
und fliegt endlos durch die Nacht …«
Dem war eine Anmerkung beigefügt. In den Gerichtsannalen von Reims war vermerkt, dass Villeneuve elf Jahre nach dem Unfall, 1356, wegen Mordes an drei Prostituierten gehängt worden war. Dies bestätigte, was van Dieterling gesagt hatte: Diejenigen, die eine negative Nahtod-Erfahrung gemacht hatten, wurden zu gewalttätigen, grausamen
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