Das Herz der Hoelle
eine starke Angst verspürt. Seine Visionen sind erschreckend, das Herannahen seines Todes versetzt ihn in Panik, und er geht bedrückt und verängstigt aus diesem Erlebnis hervor. Ein kleiner Teil dieser Personen erlebt sogar die völlige Umkehr der klassischen Nahtod-Erfahrung. Der Betreffende hat den Eindruck, seinen Körper zu verlassen, aber am Ende des Tunnels gibt es kein Licht. Nur eine rötliche Finsternis. Die Gesichter, die er sieht, sind nicht die vertrauter Menschen, die sich ihm liebevoll zuwenden, sondern Fratzen von Gemarterten, von Stöhnenden und Gefolterten. An die Stelle von Liebe und Mitgefühl sind Angst und Hass getreten. Wenn der Patient erwacht, hat sich seine Persönlichkeit um hundertachtzig Grad verändert. Er ist unruhig, aggressiv, gefährlich geworden.«
Der Kardinal sprach im Gehen mit gesenktem Kopf. Jedes seiner Worte schien in ihm eine dumpfe Wut hervorzurufen. Er fuhr fort:
»Ich muss Ihnen nicht die metaphysische Bedeutung einer solchen Erfahrung erklären. Die Überlebenden glauben nicht das Licht Christi, sondern dessen Gegenteil gesehen zu haben.«
»Wollt Ihr damit sagen, dass sie glauben …«
»… dem Teufel begegnet zu sein, ja. In der Tiefe des Limbus.«
Ich schnaufte nach mehreren Sekunden:
»Ich höre zum ersten Mal von diesem Phänomen.«
»Das bedeutet, dass wir gute Arbeit leisten. Der Heilige Stuhl bemüht sich seit Jahrhunderten, Visionen dieses Typs geheim zu halten. Denn sonst würde man dem Teufel neue Glaubwürdigkeit verleihen.«
»Im Lauf der Jahrhunderte? Soll das heißen, dass es sehr alte Zeugnisse gibt?«
Van Dieterling fand sein Lachen wieder:
»Es ist Zeit, dass Sie Bekanntschaft mit den ›Lichtlosen‹ machen.«
»Wie bitte?«
»Seit der Antike tragen diese negativen Wiederbelebten einen Namen. Die Lichtlosen. Die Sine Luce auf Lateinisch. Diejenigen, die den Abstieg in die Vorhölle überlebt haben. Wir haben hier in unserer Bibliothek ihre Aussagen zusammengetragen. Kommen Sie. Wir haben eine Auswahl für Sie vorbereitet.«
Ich stand nicht sofort auf. Zu mir selbst murmelte ich:
»Am Fundort der Leiche von Sylvie Simonis war in die Rinde eines Baumes die Botschaft geritzt: Ich beschütze die Lichtlosen … «
Die raue Stimme van Dieterlings erklang über mir:
»Es ist Zeit, dass Sie verstehen, Mathieu. Diese Morde hängen miteinander zusammen. Sie gehören zum selben Kreis. Einem Höllenkreis.«
Ich wandte mich dem Kirchenmann zu:
»Hat Agostina eine negative Erfahrung gemacht? Ist sie eine Lichtlose?«
Der Kardinal gab dem Präfekten ein Zeichen, der daraufhin die Tür öffnete. Dann antwortete er:
»Die Schlimmste von allen.«
KAPITEL 67
Wieder Korridore.
Wieder der Präfekt und seine Petrusschlüssel.
Wir machten heimlich einen Rundgang durch den Vatikan.
Aber wir waren nicht mehr allein: Zwei Priester mit Bodybuilder-Statur begleiteten uns. Der Kardinal, der seine Leibwächter überragte, ging mit schnellen, kraftvollen Schritten. Sein Brustkreuz oder ein Rosenkranz, den ich nicht gesehen hatte, klirrte im Rhythmus seines Gangs.
Eine weitere Treppe. Rutherford schloss eine Tür auf. Wir waren jetzt im Untergeschoss. Nach meinen Schätzungen mussten wir uns unter dem Pignushof befinden. Ich hatte von diesem Geheimarchiv des Vatikans gehört. Dem eigentlichen, nicht dem, das Forschern offenstand. Dies waren die unzugänglichen Bestände, die das verborgene Gedächtnis des Heiligen Stuhls enthielten.
Hier gab es weder Gemälde noch Ziselierungen. Die Betondecken waren nackt und geriffelt. Die Beleuchtung beschränkte sich auf vergitterte Glühbirnen. Auf den Stahlregalen der aufeinanderfolgenden Säle standen dicht gedrängt gelbe und beigefarbene Aktenbündel. Wir hätten uns im Archiv einer x-beliebigen Behörde befinden können. Der Geruch von Papier und Staub rief einen Juckreiz im Rachen hervor. Weder van Dieterling noch Rutherford geruhten, den Besuch zu kommentieren.
Eine weitere Tür, das Drehen eines Schlüssels.
Ein im Halbdunkel liegender mannshoher Raum kam zum Vorschein. Auf Regalen an den Wänden standen Hunderte von Büchern. Man spürte, dass die Qualität der Luft kontinuierlich überwacht und exakt reguliert wurde. Rutherford bestätigte dies:
»Die Temperatur steigt hier niemals über achtzehn Grad, und die Feuchtigkeit darf fünfzig
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