Das Herz der Hoelle
Prozent nicht überschreiten …«
Ich näherte mich den grauen Einbänden, deren Rücken mit vergoldeten Lettern verziert waren. All diese Bücher trugen den gleichen Titel. INFERNO 1223, INFERNO 1224, INFERNO 1225 … Hinter mir hallte van Dieterlings Stimme:
»Sie wissen, was der Giftschrank in einer Bibliothek ist, nicht wahr?«
»Natürlich«, sagte ich, ohne die nummerierten Rücken aus den Augen zu lassen. »Es ist der Schrank, in dem die verbotenen Texte aufbewahrt werden: erotische Bücher, gewaltverherrlichende Schriften, alle Themen, die der Zensur unterliegen …«
Er näherte sich und legte seine langen Finger auf die dicht gedrängt stehenden Einbände.
»Alle Polizisten sollten Intellektuelle sein. Alle Polizisten sollten das Priesterseminar besucht haben … Im Vatikan sind wir es uns schuldig, etwas Besonderes zu haben. Wir besitzen hier einen ›Giftschrank im Giftschrank‹, in dem die Bücher, die sich mit dem Teufel befassen, aufbewahrt werden.«
»Handeln all diese Bücher vom Teufel?«
»Ein fruchtbares Thema, das uns schon immer interessiert hat.«
Er zeigte auf eine Türöffnung am Ende des Raums, die ich noch nicht bemerkt hatte.
»Bitte.«
Ich entdeckte ein weiteres, noch kleineres Zimmer. Ein Schreibtisch in der Mitte, auf dem ein Computer und eine niedrige Lampe standen: ein Leseraum.
»In dieser Bibliothek der verbotenen Bücher«, fuhr der Würdenträger fort, »haben wir einen speziellen Giftschrank angelegt, der ausschließlich den Lichtlosen gewidmet ist.«
Die grauen Bücher auf den Regalen. Die gleichen Goldlettern: INFERNO …
»Wir haben hier alle Zeugnisse über negative Nahtod-Erfahrungen zusammengetragen. Texte, aber auch Gemälde, Zeichnungen, Darstellungen in allen Genres. Diese Erfahrungen sind zwar selten, haben sich im Lauf der Jahrhunderte jedoch immer wieder ereignet, und selbst in den ältesten Kulturen finden wir Hinweise darauf. Die Wörter und die Glaubensvorstellungen verändern sich, aber es ist immer dieselbe Geschichte. Das Verlassen des Körpers, der Tunnel, die Angst, der Dämon …«
»Warum versteckt Ihr diese Zeugnisse?«
»Ich habe es Ihnen gesagt. Wir wollen dem Bösen keine Glaubwürdigkeit verleihen. Stellen Sie sich vor, die Medien würden sich auf dieses Geheimnis stürzen. Eine Seelenreise, bei der man mit dem Teufel in Verbindung treten kann. Monatelang würde man nur noch davon hören. Das Interesse am Satanismus nimmt schon wieder zu. Allein in Italien dürfte es gegenwärtig dreitausend satanistische Sekten geben. Wir sollten nicht Öl ins Feuer gießen.«
Der Kardinal zog einen Stuhl vor den Schreibtisch:
»Setzen Sie sich. Wir haben einige aufschlussreiche Texte für Sie vorbereitet.«
Bevor ich Platz nehmen konnte, setzte van Dieterling seine Brille auf und gab auf der Computertastatur einen Code ein. Ich sah das Wappen des Heiligen Stuhls erscheinen: die Tiara und die beiden gekreuzten Schlüssel des Petrus.
»Die Originale können wir Ihnen nicht anbieten. Seit Jahren hat sie niemand angerührt.«
Er griff nach der Maus, mit der er den Cursor steuerte.
»Lesen Sie, und prägen Sie es sich ein«, sagte er, während er auf ein Icon klickte. »Sie dürfen kein Dokument mitnehmen. Keine Zeile darf diesen Raum verlassen.«
Ich setzte mich. Das Programm lief bereits.
»Ich lasse Sie mit dieser Legion des Schreckens allein, Mathieu. Der Legion der Verdammten. Möge ihnen vergeben werden. Lux aeterna luceat eis, Domine. «
KAPITEL 68
Der erste digitalisierte Text stammte aus dem 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Laut der einleitenden Kommentare handelte es sich um ein Fragment einer Tontafel, die in den Ruinen des Tempels von Ninive, einer alten Stadt des assyrischen Reichs im heutigen Irak, gefunden wurde. Eine späte Fassung einer Episode aus dem Gilgamesch-Epos des sumerischen Helden und Königs von Uruk. Das Programm bot ein eingescanntes Bild des in Keilschrift abgefassten Textauszugs und eine Transkription in modernem Italienisch an.
In dieser Episode verließ Gilgamesch seinen Körper und stürzte in einen schwarzen Abgrund, auf dessen Boden ein rotes Licht leuchtete, das von Mücken und Gesichtern umschwirrt wurde.
Ein Dämon erwartete ihn in dieser Finsternis. Das Tontafelfragment brach in dem Moment ab, in dem Gilgamesch mit der Kreatur Zwiesprache
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