Das Herz der Hoelle
Davon verstehen wir mehr als jeder andere.«
»Verzeiht, Eminenz, ich kann Euch nicht recht folgen …«
»Dann kommen wir gleich zum Punkt. Wir – und damit meine ich die Behörde, die ich vertrete, die heilige Glaubenskongregation – sind fest davon überzeugt, dass der Geist Agostinas Schauplatz eines übernatürlichen Phänomens war. Eines Besuchs.«
»Eines Besuchs?«
»Wissen Sie, was eine Nahtod-Erfahrung ist? Auf Englisch lautet der übliche Ausdruck ›Near Death Experience‹. Gelegentlich spricht man auch von ›vorübergehendem Tod‹.«
Eine Erinnerung tauchte auf. Die Informationen, die ich im Internet zu diesem Thema gefunden hatte, als ich über das Koma recherchierte. Ich erklärte knapp:
»Ich weiß, dass bestimmte Personen im Sterben eine Halluzination haben. Und zwar immer die gleiche.«
»Kennen Sie die Phasen dieser ›Halluzination‹?«
»Die leblose Person hat zunächst das Gefühl, ihren Körper zu verlassen. Manchmal sieht sie zum Beispiel das Rettungsteam, das sich an ihrer sterblichen Hülle zu schaffen macht.«
»Und dann?«
»Die Person hat das Gefühl, in einen finsteren Tunnel einzutauchen. Manchmal sieht sie darin nahestehende Menschen, die verstorben sind. Der Tunnel wird am Ende von einem heller werdenden Licht überflutet, das den Sterbenden jedoch nicht blendet.«
»Ihre Erinnerungen sind recht genau.«
»Ich habe vor Kurzem Texte über dieses Thema gelesen. Aber ich sehe keinen …«
»Fahren Sie fort.«
»Laut der Erfahrungsberichte besitzt dieses Licht eine Kraft. Die Person ist von einem unbeschreiblichen Gefühl der Liebe und des Mitgefühls erfüllt. Dieses Gefühl ist manchmal so angenehm, so berauschend, dass der Betreffende seinen Tod annimmt. In diesem Augenblick warnt ihn eine Stimme, dass seine Zeit noch nicht gekommen sei. Daraufhin kommt der Patient wieder zu Bewusstsein.«
Van Dieterling hatte sich wieder hingesetzt. Er zog eine verdrossene Miene, aber seine Augen leuchteten:
»Was wissen Sie noch?«
»Nach dem Aufwachen erinnert sich der Überlebende genau an seine Reise. Seine Weltanschauung hat sich verändert. Zunächst einmal hat er keine Angst mehr vor dem Tod. Außerdem begegnet er den Menschen in seinem Umfeld mit mehr Liebe, Großzügigkeit und Tiefe.«
»Bravo. Sie beherrschen Ihr Thema. Auch die mystische Dimension dieser Erfahrung wird Ihnen nicht unbekannt sein …«
Ich hatte den Eindruck, eine große mündliche Prüfung abzulegen. Und mir war noch immer nicht klar, worauf der Kardinal mit dieser Befragung hinauswollte.
»Die Elemente sind bei allen Erfahrungsberichten gleich«, fuhr ich fort, »aber die religiösen Konnotationen unterscheiden sich je nach Herkunft und Bildung der Person. Im Westen wird dieses Licht oftmals mit Jesus Christus, dem barmherzigen Lichtwesen schlechthin, gleichgesetzt. Aber die Erfahrung wird auch im Tibetischen Totenbuch beschrieben. In Platons Werk Der Staat findet sich, glaube ich, ebenfalls ein Passus über das Leben nach dem Tod, in dem die Besonderheiten dieser Reise geschildert werden.«
Die Sonne drang immer weiter in das Zimmer. Sie zeichnete strahlend weiße geometrische Figuren auf den Boden. Der Kardinal sah auf seinen Pastoralring. Der Rubin flackerte im Licht. Er blickte auf:
»Sie haben recht«, sagte er. »Diese Erfahrungen werden überall auf der Welt gemacht, und ihre Zahl nimmt ständig zu, vor allem wegen der Wiederbelebungstechniken, mit denen alljährlich Tausende von Menschen ins Leben zurückgeholt werden. Wussten Sie, dass von fünf Opfern eines Infarkts, der ein vorübergehendes Koma zur Folge hatte, mindestens eines eine Nahtod-Erfahrung hat?«
Ich erinnerte mich an diese Zahl. Der Kardinal nickte sachte mit dem Kopf er verstand es, Spannung zu erzeugen. Schließlich murmelte er:
»Wir glauben, dass Agostina vor ihrer Heilung, als sie nach der Rückkehr aus Lourdes ins Koma fiel, eine derartige Erfahrung gemacht hat.«
»Was versteht Ihr unter einem ›Besuch‹?«
»Wir glauben, dass es sich dabei um eine Erfahrung besonderer Art handelte.«
»In welchem Sinne?«
»Negativ. Eine negative Todesnäheerfahrung.«
Davon hatte ich noch nie gehört. Van Dieterling stand wieder auf und zupfte nervös an seiner Robe.
»Es gibt – sehr seltene – Nahtod-Erfahrungen, in denen der Betreffende
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