Das Herz der Hoelle
kehrte in die Gegenwart zurück. Ein Gedanke trieb mich seit letzter Nacht unterschwellig um. Ich wollte ein wenig im Kloster herumschnüffeln, dessen Aktivitäten mir trotz der Führung durch Zamorski immer obskurer vorkamen.
Ich hatte versucht, noch einmal in die unterirdische Zentrale zu gelangen. Unmöglich. Biometrische Sensoren, Kameras, Fotozellen. Die Zone war besser geschützt, stärker abgeschottet als eine militärische Kommandozentrale. Die Funktion anderer Räume im Erdgeschoss war ebenfalls rätselhaft. Am Vortag hatte ich einen groben Plan des Klosters aufgezeichnet. Die Gebäude um den Haupthof waren in Form zweier L angeordnet und den beiden Orden vorbehalten: den Benediktinerinnen im Nordosten, und den Patres im Südwesten. Jede Zone hatte eine eigene Kapelle, und mit Ausnahme des Refektoriums, wo Männer und Frauen ihre Mahlzeiten nacheinander einnahmen, gab es keine gemeinschaftlich genutzten Räume.
Ich konzentrierte mich auf den südwestlichen Komplex. Die Räume, die ich bereits gesehen hatte, hatte ich mit Bleistift schraffiert. Im Erdgeschoss die Verwaltungsbüros. Dann eine Bibliothek. Dort fertigten Seminaristen ihre Doktorarbeiten zu Themen aus der polnischen Kirchengeschichte an. Dann die Kapelle und ein Erholungsbereich. Übrig blieben zwei unbekannte Räume in der Ecke des L-förmigen Baus. Ich wettete, dass es sich um das Privatbüro Zamorskis und einen geheimen Tagungsraum handelte …
Ich streifte mein Jackett über und beschloss, einen kleinen morgendlichen Rundgang zu unternehmen. Die Benediktinerinnen beteten das Angelus, und die Patres waren beim Frühstück. Die ideale Uhrzeit.
Ich ging den Hofgang zurück und stieg die Treppe hinunter. Es wurde gerade hell. An der Stelle, wo die beiden Galerien zusammentrafen, blieb ich vor der Tür stehen, die zu dem größten Raum führen musste – es konnte nur der Geheimsaal sein. Ich zog mein Passepartout heraus. Die Kühle des Steins. Duft von Buchsbäumen und Tannen. Die Kälte isolierte jede Empfindung. Ich steckte den ersten Schlüssel hinein und bemerkte, dass die Tür unverschlossen war.
Eine unbekannte Kapelle.
Lang, eng, geheimnisvoll.
Schmale Fenster enthüllten das Blau des Morgengrauens. Stuhlreihen, dazwischen Pulte mit geschlossenem Deckel, zogen sich bis zum Chor hin. Kein Altar, kein Kreuz. Nur eine Rosette mit einem weißen Kirchenfenster, das zerknittert wie Silberpackpapier wirkte, in der Rückwand des Raums.
Ich ging ein paar Schritte. Die außergewöhnliche Stille und die Reinheit der Kälte machten einen tiefen Eindruck auf mich. Meine Augen gewöhnten sich an das Halbdunkel. Ich konnte jetzt Farben unterscheiden. Die Säulen waren weiß, der Terrakotta-Boden zart ockerfarben und der Putz an den Mauern pastellgrün. Es gab an diesem Ort nichts für mich, aber irgendeine Kraft hielt mich hier.
Plötzlich ging das Licht an.
»Weiß, Rot und Grün. Die Farben des Fürsten Jabelowski, des Klostergründers.«
Ich drehte mich um. Zamorski stand in der Tür und hatte die Hand noch auf dem Schalter. Ich tat, als sei ich ganz entspannt.
»Wo sind wir hier?«
»In einer Bibliothek.«
»Ich sehe keine Bücher.«
Zamorski kam durch den Mittelgang und klappte den Deckel eines Pults hoch. Ledereinbände glänzten dort wie Goldbarren. Er griff nach einem Werk. Man hörte ein Klirren: Der Band war angekettet. An dem Holzrahmen führte eine schwarze Eisenstange entlang, an der die Kette befestigt war. Ich hatte schon von derartigen Bibliotheken gehört, die typisch für die Renaissance waren. Orte, wo die Bücher gefangen waren.
»Dieser Saal wurde im 15. Jahrhundert erbaut«, bestätigte der Nuntius. »Er hat Kriege, Invasionen, den Nationalsozialismus und den Kommunismus unbeschadet überstanden. Ein symbolträchtiger Ort, der von größtem Interesse für uns ist.«
»Wollen Sie ein Museum daraus machen?«, fragte ich ironisch.
Er ließ den schweren Folianten los, was einen unheimlichen Ton erzeugte.
»Dieser Ort ist ein Sinnbild unseres Kampfes, Mathieu. In den 1450er Jahren, nach den Hussitenkriegen, in denen viele religiöse Stätten zerstört wurden, hat Fürst Jabelowski dieses Kloster erbauen lassen. Er hatte ein Projekt. Er wollte nach einer … sagen wir … ungewöhnlichen mentalen Erfahrung einen neuen Orden gründen.«
»Sie wollen sagen …«
»Ein Lichtloser, ja. Nachdem
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