Das Herz der Hoelle
Semba.«
Claude war einer meiner ehemaligen Spitzel. Er stammte aus der Elfenbeinküste, und er war kein richtiger Zuhälter, sondern eher ein Berater und Mittelsmann zwischen den Ethnien, den Netzwerken und betuchten Kunden. Ein Mann, den die Gemeinschaft »brauchte«.
Vier Küsschen, und ich ging Richtung Ausgang. Plötzlich überlegte ich es mir anders. »Nur einen flüchtigen Blick«, sagte ich mir, dann kehrte ich um und ging Richtung Bar. Im Halbdunkel zog ich mir die Musik – remixten Zouk – voll rein und war ganz von den Socken.
Da waren sie, auf der Tanzfläche, hochgewachsen, schwarz, sich wiegend im Rhythmus der Musik. Konzentriert und zugleich kühl und ungezwungen. Sie schienen wahrzunehmen, was in diesem Augenblick sonst niemand registrierte – eine Flüssigkeit, eine einzigartige Sehnsucht in der Melodie. Jede hatte ihre ganz eigene Art, damit umzugehen. Magisches Kreisen mit den Hüften, erhobene Hände, wie ein Abschiedsgruß ans Festland; sich mit erstaunlicher Wucht abbiegende Wespentaillen und ruckartige Bewegungen in scheuer Zurückhaltung.
Die Erregung schnürte mir den Unterleib zusammen. Wie hatte ich »das« vergessen können? Wie hatte ich, seitdem ich bei der Mordkommission war, der Versuchung widerstehen und auf meine Abenteuer verzichten können? Ich stahl mich heimlich davon, ohne mich umzudrehen, und floh vor dem Schatten meiner Begierden.
Ich stieg in mein Auto ein und raste über die Straßen am Seineufer. Der schwarze Fluss wälzte sich gemächlich dahin, Lichter, die sich in der Strömung auflösten, der Eindruck, einen anderen Fluss hinaufzufahren, den nur ich kannte und an dessen Seiten sich die Landestege afrikanischer Ufer erhoben. Am Grand Palais überquerte ich die Seine, Richtung 8. Arrondissement.
Das Keur Samba. Schicker als das Ruby’s, aber nicht so familiär. Mir gefiel vor allem die Einrichtung. Von hinten beleuchtete Glaswände mit stilisierten Dschungelmotiven, Löwen, Palmblättern, Gazellen … Ein cognacfarbenes Aquarium, das aussah wie ein Boudoir. Ich ging die Bar entlang, streifte Frauen in schwarzer Seide, die so groß waren wie ich. Dann suchte ich die Toiletten auf, wo mich eine andere Bekannte erwartete.
Merline stand hinter einem Pult, das von Zigarettenschachteln und Kondompäckchen bedeckt war. Ein spitz zulaufendes Gesicht, überragt von einer gewaltigen Mähne aus gelacktem schwarzem Haar, das an den Schläfen in Strähnen gelegt war. Sobald sie mich sah, brach sie in ein schrilles Lachen aus und entbot mir ein herzliches Willkommen.
»Hallo, mein schöner Toubab! «
»Hallo, Merline.«
Das Wort »Toubab« bezeichnete in den westafrikanischen Ländern einen Weißen. Vor fünf Jahren hatte ich Merline, die frisch aus Bamako gekommen war, vor dem Strich bewahrt. Damals bekam sie kaum etwas zu essen, damit sie sich bei ihren ersten Fellatios nicht übergab.
»Keine Angst vor den Damen, komm näher.«
Ich grüßte die Frauen, die um sie herumstanden: fünf oder sechs laszive, blauschwarze Blumen, an die mit violettem Samt überzogenen Wände gelehnt. Ihre großen schwarzen Augen erinnerten mich an die Schlangenbeschwörerin des Zöllners Rousseau.
»Hast du mich vermisst?«
»Ich begreife nicht, wie ich es so lange ausgehalten habe.«
Sie prustete los. Jedes Mal, wenn sie auflachte, hatte man den Eindruck, als schnappe sie mit den Zähnen nach Luft. Ich betrachtete die »Damen«. Alle trugen schimmernde Stoffe und hatten sich Lippen, Nasenloch und Nabel gepierct. Vor allem ihre Perücken faszinierten mich: geflochtene Zöpfe, rötliche Strähnen, aufgetürmte, gelackte Hochfrisuren im Stil der sechziger Jahre, Marke Diana Ross …
»Nichts für dich. Die kannst du dir nicht leisten.«
»Deswegen bin ich nicht hier.«
»Solltest du aber. Es würde dich entspannen. Was willst du?«
»Claude. Ich muss mit ihm sprechen.«
»Probier’s im Atlantis. Er fährt gerade voll auf die Antillen ab.«
Ich verabschiedete mich von Merline und ihrem Hofstaat. Beim Verlassen des Keur Samba wurde mir bewusst, dass ich keiner berühmten Persönlichkeit der schwarzen Gemeinschaft begegnet war: weder einem Musiker noch dem Sohn eines Botschafters, noch einem Fußballspieler. Wo waren sie an diesem Abend?
Das Atlantis befand sich in einem ehemaligen Lagerschuppen, gleich neben dem Teppich-Fachmarkt Saint-Maclou am Quai
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