Das Herz der Nacht
richtig. Der reiche Adelsmann hatte seinen Sohn für den russischen Staatsdienst erziehen lassen wollen und ihn zur Ausbildung in das erstklassige »Flebanische Institut« nach Wien geschickt, das in einem Gebäude gegenüber der Schranne zu finden war. Dort hatte der Knabe viele Jahre den Pranger und die Schandbühne vor Augen gehabt, auf der die Verbrecher vorgeführt und ihr Urteil verlesen wurde. Und dort sollte auch er viele Jahre später dem Spott der Menge ausgesetzt werden, nachdem er seinen ehemaligen Professor ermordet und um Obligationen im Wert von sechzigtausend Gulden bestohlen hatte.
Hofbauer erinnerte sich noch gut an den Fall. Das Delikate daran war, dass Jaroschinski es verstanden hatte, sich mit einem freizügigen Lebensstil in der Gesellschaft beliebt zu machen – in der er sich stets als Graf ausgab –, bis seine erdrückenden Schulden ihn zu dieser Tat trieben. Gerade an jenem Abend, als die Kriminalpolizei genügend Beweise gegen ihn gesammelt hatte, um eine Verhaftung anzustreben, hatte Jaroschinski zu einem Festmahl in seiner Wohnung geladen. Neben einem russischen Baron und anderen Mitgliedern der Gesellschaft war auch die berühmte Schauspielerin Therese Krones anwesend. Hofbauer hatte sie einige Male im Leopoldstädter Theater und in Adolf Bäuerles Stück »Lindane« im Volkstheater bewundert.
Jedenfalls waren die Gäste guter Dinge, die Krones stimmte gerade »Brüderlein fein« an, als die Polizei ins Haus drang, um den Gastgeber zu verhaften. Hofbauer stand die Szene noch so deutlich vor Augen, dass er sich sogar noch daran erinnerte, dass Jaroschinski Essen beim Trakteur Wittmann für fünf Gulden das Gedeck bestellt hatte! Ja, er verstand es, sein Blutgeld zu verschwenden. Die Krones fiel in Ohmacht, als der leitende Kommissär den Grund für die Verhaftung verlas und den Verdächtigen zu einem strengen Verhör zum Stadtgericht bringen ließ. Wien zerriss sich das Maul darüber, Therese Krones sei die Geliebte des Mörders und Hochstaplers gewesen, so dass sie sich gar ins Kloster zurückziehen wollte. Ihr Kollege und Dichter Ferdinand Raimund holte sie zurück. Die Wiener nahmen sie in Gnade wieder auf und jubelten ihr schon bald wieder zu. Nicht lange danach starb sie, kaum dreißig Jahre alt.
Hofbauer schüttelte die Erinnerungen ab und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den aktuellen Fall. Vielleicht hatten sie ja Glück und konnten ihn noch heute Nacht lösen. Schließlich war dieser Báthory kein Mitglied des Wiener Hochadels, sondern nur irgendein ungarischer oder böhmischer Graf – wenn überhaupt. Vielleicht würde der Direktor ihnen ein wenig freie Hand lassen …
Graf András Petru Báthory verließ das Haus, als die Glocke der Augustinerkirche zehn Uhr schlug. Er war nicht gerade gehobener Stimmung. Kaum hatte er an diesem Abend seinen Sarg verlassen und seine Garderobe mit Gorans Hilfe in Ordnung gebracht, klopften zwei Beamte der Kriminalpolizei an seine Tür und begehrten Einlass. Er ließ sie im zweiten Stock in den grünen Salon führen – warum dieser so hieß, wusste er selbst nicht – und widmete sich den ungebetenen Besuchern mit ausgesuchter Höflichkeit, obwohl ihn der drängende Hunger abzulenken drohte. Er verkniff sich den Gedanken, sich an den beiden Kriminalbeamten gütlich zu tun. Nein, das würde seine Situation, die ihm eh nicht gefiel, nicht gerade verbessern.
So blieb er höflich und versuchte auf alle Fragen eine zufriedenstellende Antwort zu geben, obwohl der jüngere der beiden Beamten keinen Hehl aus seiner Abneigung machte und dem Grafen deutlich zu verstehen gab, dass er in ihm den Täter sah, den es nur noch zu überführen galt, und dass er darüber hinaus sowieso nichts von Leuten seines Standes hielt.
Endlich verabschiedeten sich die beiden Polizisten. András ließ sich von Goran in seinen Mantel helfen, lehnte seine Frage, ob er seinen Herrn begleiten solle, ab und verließ dann das Palais. Er war in Gedanken bereits bei der Überlegung, wo er seinen Blutdurst heute stillen wollte, als er unvermittelt innehielt. Blut! Er roch Blut! Frisches Blut, dem kaum die Wärme des Lebens entronnen war. Verwirrte die Gier seine Sinne?
Nein, das konnte nicht sein. András blieb stehen, schloss die Augen und witterte. Die Nasenflügel blähten sich. Da war kein Körper, weder lebendig noch tot, aus dem der Lebenssaft rann. Und dennoch konnte er frisches Menschenblut riechen. Eine Frau, nein, ein junges Mädchen hatte es vergossen.
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