Das Herz der Nacht
Verwundert zog András die Stirn kraus. Ein Unfall? Eine Verletzung? Ein seltsamer Zufall?
Seine Witterung half ihm, das Blut aufzuspüren. Wenn er bis zur Tür zurücktrat, kam der Geruch von beiden Seiten! Langsam öffnete András die Augen und ließ den Blick schweifen, bis er fand, was er suchte. Die Gewänder der Karyatiden zu beiden Seiten des Tores waren von Blut befleckt. Das konnte kein Zufall sein! Wie aber kam das Blut auf die Steinfiguren und warum? Ein unangenehmes Gefühl rann ihm den Rücken hinab. Das Blut war noch so frisch, dass es innerhalb der vergangenen Stunde dort auf den Stein gekommen sein musste – während ihn die beiden Kriminalbeamten wegen drei Morden und einer Vermisstensache befragten!
Dass es sich bei dem Vermisstenfall um einen vierten Mord handelte, konnten die Beamten bisher nur vermuten. András dagegen wusste es sicher, seit er das tote Mädchen aus der Donau gezogen hatte. Er hütete sich aber wohl, die Polizisten darüber aufzuklären. Nein, sein Name musste nicht noch enger mit den Morden in Verbindung gebracht werden!
András starrte noch immer die Blutflecken auf den steinernen Gewändern an. Zum Glück war es dunkel gewesen, als die Beamten das Haus verließen. Er wollte sich nicht ausmalen, mit welchem Eifer sie sich auf diesen Fund gestürzt hätten. Ob das ausreichen würde, ihn in Arrest zu nehmen und ins Stadtgericht zum Verhör zu schleppen? Vielleicht. Genau das galt es zu verhindern! Nicht, dass sich András sorgte, in einer Zelle im Polizeigefangenenhaus ohne eine Möglichkeit zur Flucht zu verschwinden. Ein Wesen wie ihn konnte man nicht festhalten. Zumindest nicht auf solch einfache Art. Nein, aber es würde ihn verstimmen, Wien schon wieder verlassen zu müssen. Er mochte die Stadt und war es leid, sich immer und immer wieder ein neues Leben aufbauen zu müssen. Meist reichte es, zwanzig Jahre fernzubleiben und das Tuch des Vergessens die alte Identität auslöschen zu lassen, um dann als ein jüngerer, entfernter Verwandter zurückzukehren. Doch zuvor wollte er mindestens zehn Jahre dieses Leben hier und die Atmosphäre der Stadt genießen und sich nicht von zwei misstrauischen Beamten der Polizei verjagen lassen.
Noch einmal untersuchte András das Blut. Stammte es von jemand, den er kannte? Er suchte in seinem Gedächtnis, konnte aber keinen Geruch finden, der zu diesem passte. Entschlossen trat er in die Halle des Palais zurück und rief nach Goran.
Er kam sofort herbeigeeilt und sah seinen Herrn verwundert an. András zog ihn mit hinaus und zeigte ihm die Flecken. Gorans Augen weiteten sich voll Schreck, als er fragend zu András aufsah.
»Ja, du vermutest ganz recht. Es ist Blut, und ich nehme an, du weißt genauso wenig wie ich, wie es dort hingekommen ist?«
Goran schüttelte heftig den Kopf.
»Das habe ich mir gedacht. Beruhige dich, aber sorge dafür, dass es verschwunden ist, noch ehe der Tag anbricht. Du musst mit Sorgfalt zu Werke gehen. Es darf nichts übrig bleiben, das einen weiteren Besuch der Polizei in meinem Haus oder gar eine Durchsuchung rechtfertigen würde! Und pass auf, dass dich niemand beobachtet. In und um mein Haus darf nichts geschehen, das zu Klatsch und Verdächtigungen Anlass geben kann. Ich hoffe, du verstehst, wie ernst es mir damit ist!«
Goran hielt dem scharfen Blick seines Herrn stand, was wohl nicht vielen geglückt wäre. Der Graf nickte zufrieden.
»Fang am besten sofort an.«
Goran verbeugte sich und eilte davon, während sich der Graf etwas verspätet aufmachte, seine nächtlichen Bedürfnisse zu stillen.
Fürstin Kinsky langweilte sich. Mehr noch als üblich, obwohl sich weder die Gäste noch die Konversation von sonstigen Veranstaltungen unterschieden. Die Gespräche drehten sich immer um die gleichen Themen: Gesellschaftsklatsch über den Hof und die, die das Privileg hatten dazuzugehören – über einfache Bürger lohnte es nicht zu sprechen. Mit Ausnahme vielleicht der Künstler, die am Burgtheater auftraten, und der aufstrebenden Musiker, deren Kompositionen Wien in der Faschingszeit wieder einmal zu einem Tollhaus werden ließen. Bei diesem Gedanken huschte ein Lächeln über Thereses Miene. In dieser Zeit verloren sogar die Hofbälle ein wenig von ihrer Steifheit. Ein Maskenball im Redoutensaal konnte gar eine lustige Sache werden! Ein Ball bei Hof dagegen war stets eine ernste, geradezu staatstragende Angelegenheit, die minuziös vorgeplant war. Jedes Musikstück und dessen genaue Länge wurde
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