Das Herz der Savanne - Afrika-Roman
halten?«
Ruth nickte. »Kann sein. Aber ist nicht irgendwann einmal der Punkt erreicht, an dem es einfach nicht mehr weitergeht?«
»Meiner Erfahrung nach geschieht das bei Frauen wie Corinne nur, wenn sich ihnen eine lohnende Alternative bietet.«
Nachdenklich sah Ruth aus dem Fenster. »Ich muss darüber nachdenken. Wahrscheinlich kenne ich meine Schwester nicht gut genug, um herauszufinden, was für sie das Richtige wäre.« Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Oh, es ist gleich zwei. Ich muss zum Gefängnis. Hoffentlich lassen die mich überhaupt rein.« Ruth stand auf und trank im Stehen ihren Kaffee aus.
Auch Leonore hatte sich erhoben. »Ich würde gerne mitkommen. Es ist nie falsch, von einem Anwalt begleitet zu werden. Außerdem möchte ich Horatio kennenlernen, wenn er ab heute zu meinen Mandanten zählt.«
Ruth seufzte erleichtert auf. »Ich wäre froh, ihn in Ihren Händen zu wissen.«
»Aber er muss es wollen. Er muss damit einverstanden sein. Letztendlich kann nur er mich mit seinem Mandat beauftragen.«
Kurze Zeit später meldeten sich die beiden Frauen an der Pforte des Gefängnisses. Sie hatten eine kleine Weile warten müssen. Vor ihnen standen etwa ein Dutzend schwarze Frauen, manche von ihnen mit Kindern an der Hand, andere alt und staubig von einem weiten Weg.
Vielen von ihnen stand der Kummer ins Gesicht geschrieben, die meisten waren ärmlich gekleidet, eine alte Frau weinte, wischte sich immer wieder mit dem Ärmel das Gesicht trocken. Männer waren unter den Besuchern nicht zu finden.
Dann wurde das Tor geöffnet, und die Frauen drängten sich hinein, ließen sich die Kleidung abklopfen, versuchten die hämischen oder obszönen Bemerkungen der weißen Wärter zu ignorieren, öffneten widerwillig, aber gehorsam ihre Taschen und sahen zu, wie schwere Hände mutwillig Obst zerdrückten, Kuchen zerbrachen und gemalte Kinderbilder zerknitterten.
»Ich könnte jedes Mal kotzen, wenn ich das sehe«, flüsterte Leonore.
»Warum lassen sich die Frauen das denn gefallen?«, wollte Ruth wissen.
»Wenn sie sich beschweren, dürfen sie ihre Angehörigen nicht sehen. Und schlimmstenfalls müssen die sogar noch dafür büßen. Also halten alle den Mund. Wir übrigens auch, wenn ich das raten darf.«
Mit zusammengebissenen Zähnen und eisigem Blick ließ sich Ruth von einem der weißen Wärter abtasten. Auch ihre Tasche wurde durchwühlt, aber zum Glück hielten sich die Männer in den Uniformen wenigstens mit anzüglichen Bemerkungen und groben Sprüchen zurück.
Wenig später wurden die Frauen in einen langen, schmalen Raum geführt, dessen Wände seit Jahrzehnten auf einen neuen Anstrich warteten. Das einzige winzige Fenster war vergittert, die Scheiben blind vor Dreck.
Der Raum war von Neonleuchten erhellt, die flackerten und summten, sodass auf den Gesichtern der müden Frauen zuckende Schatten lagen. Ein langer Tisch nahm die Mitte des Raumes ein, an jeder Seite von einem guten Dutzend Stühle umstanden. An den Kopfenden saß jeweils ein Wärter, den Knüppel gut sichtbar in den Händen und das Pistolenholster in Griffnähe.
Einer der Wärter stand auf. »Schneller! Das muss schneller gehen! Die Besuchszeit dauert nicht ewig!«
Der Tisch war an der Längsseite von einem Drahtgitter halbiert, das die Gefangenen von den Besuchern trennte und bis zur Decke reichte. Die Luft im Raum war stickig, von Schweiß und Angst und Tränen getränkt.
Seufzend ließ sich Ruth auf dem ihr zugewiesenen Stuhl nieder, darauf bedacht, sich an den splittrigen Kanten nicht das neue Kleid zu zerreißen.
Erst als alle Frauen und Kinder Platz gefunden hatten und Stille eingekehrt war, öffnete sich auf der Seite hinter dem Drahtgitter eine Tür, und die Gefangenen kamen herein.
Ruth sah Horatio sofort und erschrak. Er war schon immer schmal gewesen, doch jetzt war er mager. Unter seinen Augen lagen tiefe Ringe, er hielt die Schultern geduckt, den Rücken gekrümmt.
Als er Ruth erblickte, begann sein Gesicht jedoch zu leuchten. Sein Mund verzog sich und zeigte weiße Zähne. »Ruth!«, rief er, und seine Stimme übertönte alle anderen Geräusche im Raum.
»Ruhe, verdammt!«, brüllte ein Wärter, aber schon saß Horatio auf dem Stuhl Ruth gegenüber. Schon hatte er die rechte Hand aufs Herz gepresst und die linke gegen das Gitter, wo Ruths Hand schon auf ihn wartete.
Sie sahen einander schweigend an. Sie blickten einander in die Augen und lasen dort alles, das sie wissen mussten.
Manchmal habe ich an dir
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