Das Herz der Wueste
sich neben sie, ergriff behutsam ihre Hände und redete mit ihr. Nicht dass sie sie hätte verstehen können, aber Jenny hoffte, dass der Tonfall sie beruhigte.
„Ich werde sie gleich untersuchen und muss dazu die Kleidung entfernen, damit ich den Bauch während der nächsten Wehe abtasten kann. Außerdem möchte ich, dass mir jemand genau beschreibt, was bis jetzt passiert ist“, sagte sie laut, damit Kamid sie verstand – falls er dort draußen hinter der Zeltwand wartete.
Da ertönte seine Stimme, ruhig, tief und deutlich. Eine der Frauen fing an, die Decken vom Körper des Mädchens zu ziehen, und sprach dabei vor sich hin.
„Sie sagt, dass die Wehen immer schwächer werden. Offenbar ist sie eine erfahrene Hebamme.“ Er übersetzte wieder, und die Frau deutete mit Daumen und Zeigefinger an, wie weit sich der Muttermund schon gedehnt hatte.
Jenny horchte mit dem Stethoskop die Herzfrequenz des Babys ab. „Kannst du fragen, wann die letzte Wehe war?“
Die junge Frau wurde unruhig, und die Frauen drückten ihr die Schultern herunter, bis Jenny sie behutsam beiseiteschob und ihrer Patientin half, sich aufzurichten. Sie legte ihr den Arm um die Schulter und tätschelte sie beruhigend. Mit der anderen Hand strich sie ihr das schweißnasse Haar aus dem Gesicht. Könnte ich nur ihre Sprache sprechen!
„Vor einer halben Stunde und auch nur sehr schwach“, antwortete Kamid.
Ihre Patientin fing an zu weinen, redete unablässig vor sich hin.
„Was sagt sie? Weißt du, was sie will?“
„Ihren Mann“, entgegnete er zögernd.
„Wie heißt er?“
„Abdullah.“
Als Jenny den Namen wiederholte, packte das Mädchen ihre Hände, blickte ihr flehentlich ins Gesicht und sagte immer und immer wieder den Namen, wobei es auf sich deutete.
„Warum kann er nicht hereinkommen?“
Die Antwort kam postwendend. „Es verstößt gegen die Sitten.“
„Ach, verschon mich damit! Sag ihm, er ist ein moderner Mann, ein Stammesführer, und es liegt an ihm, neue Maßstäbe zu setzen. Was für ein Anführer ist er, dass er sich heutzutage diesen alten Vorschriften beugt? Schön, einige sind sinnvoll und nützlich, aber andere gehören aussortiert. Du kannst es ja ein bisschen anders ausdrücken, aber richte ihm aus, er soll sich endlich herbequemen und seiner armen Frau beistehen. Er muss nicht dableiben, zumal ich bezweifle, dass er während eines Kaiserschnitts von Nutzen sein wird, doch sie ist völlig fertig. Sie braucht ihn, und zwar jetzt.“
Gedämpft drangen die kehligen Laute seiner klangvollen Stimme ins Zelt, und Jenny setzte ihre Untersuchung fort. Der Muttermund war nicht weiter als vier Zentimeter geöffnet. Das bedeutete, nach zwanzig mühevollen Stunden befand sich die werdende Mutter noch in der Anfangsphase der Entbindung. Jenny kam zu dem Schluss, dass das Becken zu schmal war.
Bewegung am Zelteingang und die hastigen Bemühungen der Frauen, sich zu verschleiern, ließen sie vermuten, dass Kamid den Anführer überzeugt hatte. Jenny bedeckte die junge Frau wieder und strich ihr erneut das feuchte Haar aus dem Gesicht.
Eine tiefe Stimme ertönte, die Frauen stoben auseinander wie aufgescheuchte Hühner, und dann erschien ein breitschultriger Hüne.
„Ich habe mich herbequemt“, verkündete er mit starkem Akzent, und Jenny musste lächeln.
„Wie lange hätten Sie meinen Kollegen noch dolmetschen lassen?“, fragte sie, als er näher kam, den Blick auf seine junge Frau gerichtet.
„Wahrscheinlich die ganze Zeit. Immerhin nahmen Sie an, ich wäre Ihrer Sprache nicht mächtig.“
Er kniete sich neben das Bett, sagte etwas zu seiner Frau, und wieder hörten sich die Worte für Jenny an wie Poesie.
Sie ließ ihnen zwei Minuten, bevor sie auf der anderen Seite niederkniete. „Ich habe ihn mitgebracht für den Fall, dass Sie sich geweigert hätten hereinzukommen. Dann hätte er ihr erklären müssen, was wir machen. Die Geburt dauert schon zu lange.“ Sie erklärte ihm, woran es ihrer Meinung nach lag. „Das Baby steht unter starkem Stress, und Ihre Frau ist total erschöpft. Deshalb möchte ich das Kind durch einen Kaiserschnitt entbinden. Sie wissen, was das ist?“
„Sie schneiden sie auf und holen das Baby heraus. Wird meine Frau überleben?“
Jenny hätte ihn umarmen können. Wie oft dachten sie zuerst an das Kind, aber dieser Mann musste seine Frau sehr lieben, dass ihm ihre Gesundheit wichtiger war.
„Ja, aber die Zeit danach wird nicht einfach sein. Zwar wird sie ein bisschen
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