Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
denkt der Junge und guckt auf seine Hände, die zufällig gerade beide auf der Tischplatte liegen wie überführte Verbrecher.
Doch der Brief, den diese Hände geschrieben haben, wird am Abend in Gíslis Keller gelesen, äußerst langsam. Rakel kann sich mehr schlecht als recht durchbuchstabieren, für die zwei Seiten braucht sie fast eine Stunde und muss dann wieder von vorn anfangen, weil sie überzeugt ist, alles falsch verstanden zu haben. In der Nacht schläft sie schlecht, erscheint mit roten Augen und schweigsam auf der Arbeit.
Wo ist denn deine gute Laune geblieben?, fragt jemand, weil die dunkle Wolke über Rakel das Licht an den Trögen verdüstert. Sie gibt keine Antwort, zerschlägt die Eisdecke auf dem Wasser und fängt an, Fische zu waschen.
Unterdessen arbeiten Oddur und Lúlli als Schauerleute. Im Lauf der letzten drei Tage sind drei Schiffe eingelaufen, sie kommen aus der großen, weiten Welt, wo alles passiert, und sind voll beladen bis unter die Decksplanken mit Waren und Gütern, mit Salz, mit Kohle, mit Korn in Säcken, Petroleum in Fässern, mit Bauholz, unbehandelt und gehobelt, das man zum Errichten von Booten und Häusern braucht, für Werkzeug und Särge, mit Teer, mit Zement, Whisky, Bier, Feigen, Leinwand, Öfen, Schuhen, verschiedenen Sorten von Seife, Hustenbonbons, Rotwein, Zigarren, Kaffee und Schokolade – wie viele Dinge wir doch zum Leben brauchen! Und all das muss so schnell wie möglich an Land geschafft werden, auch nachts, wenn’s sein muss. Wer sich beschwert, kann gehen, es gibt genügend, die arbeiten wollen und keine Essenspause brauchen. Die Verheirateten bekommen Essen von zu Hause. Ihre Frauen legen für eine halbe Stunde Fisch und Drahtbürste beiseite, laufen nach Hause, geben den Kindern zu essen und bringen ihren Männern etwas oder schicken eins der Kinder, das alt genug dazu ist, aber noch nicht alt genug, um selbst zu arbeiten. Immer sind es die Frauen, die rennen und an alles auf einmal denken müssen. Die Männer schaufeln das Essen im Stehen in sich hinein, lehnen sich höchstens irgendwo an, und es gilt als Tugend, schnell zu essen, wer als Erster alles verputzt hat, ist der Beste, Nahrung ist dazu da, schnell aufgenommen zu werden, von genießen ist keine Rede.
Lúlli und Oddur haben Essen dabei. Sie sind beide ohne Frau und wohnen zusammen, eine so schöne Männerfreundschaft wie die der beiden haben wir seit den Tagen von Núlli und Jón nicht mehr gesehen. Lúlli und Oddur setzen sich zum Essen tatsächlich hin, sie kauen bedächtig und sitzen wie alte Männer mit kaputten Beinen oder Leute aus dem Ausland, der Vorarbeiter fällt aber kaum einmal über sie her, obwohl er es manchmal möchte, sehr, sehr gern sogar, ist doch das reinste Gift, den beiden Schnarchsäcken zuzusehen, und wenn ihm so richtig die Galle hochkocht, möchte er sie am liebsten erschießen. Die beiden Schneeschipper haben allerdings eine Sonderstellung, die Kaufleute wollen sie beim Löschen ihrer Waren unbedingt dabeihaben, sie arbeiten zusammen wie ein Mann, gut und Hand in Hand, sie beschweren sich nie, hören nie auf, bevor alles erledigt ist, und dürfen sich daher so manche Extrawurst herausnehmen.
Wäre trotzdem schön, sie erschießen zu dürfen, knurrt der Vize, und wenn er nur einen von ihnen träfe und nur ein paar Mal. Er heißt Kjartan und gehört zu der vornehmen Familie, zwar nicht zum inneren Kreis, aber er ist mit Friðrik verwandt und kaut so viel Tabak, besonders im Frühjahr, wenn nach einem mageren Wetter auf einmal genug übrig ist, dass es nicht selten so aussieht, als würde sein Mund von Blut triefen. Dann bekommt er ein richtig blutrünstiges Aussehen, und den übrigen Schauerleuten erscheint es sicherer, seine Anordnungen unverzüglich auszuführen, noch bevor er den Mund öffnet und seine Befehle bellt. Kjartan starrt wütend auf Lúlli und Oddur hinab, die in aller Seelenruhe ihr Essen kauen wie ein paar elende Wiederkäuer, hocken da wie die Taugenichtse im Parlament, verflucht noch mal, sagt er laut und muss sich abwenden, um nicht zu platzen.
Der Brief ist entziffert, ein Tag ist vergangen, noch ein zweiter, und es wird Abend. Zwischen den Bergen wird es kaum richtig dunkel, aber doch so weit, dass genau über der Winterküste am Himmel Merkur aufleuchtet, dieser kleine, von der Sonne verbrannte Planet. Wer zu viel liebt, dem kann es übel ergehen.
Andrea und der Junge spazieren auf den alten Ortskern zu. Sie reden nicht viel miteinander,
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