Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
meinen Mann böswillig verlassen, und was mache ich dann? Ich kann mich doch nicht ewig bei Helga und Geirþrúður verstecken, ebenso wenig wie du, irgendwann werden wir eine Entscheidung treffen müssen, irgendeine Entscheidung. Ist das der Rektor da am Fenster?
Der Junge blickt nach oben und erkennt Gísli hinter der Scheibe. Er aber scheint sie nicht zu sehen, er setzt gerade ein Glas an die Lippen.
Er ist schon wieder betrunken, murmelt der Junge, das ist er mehr oder weniger die ganze Zeit, seit das Schuljahr um ist.
Der Schnaps ist sein Wellenbrecher, sagt Andrea. Lieber Gott, wie sehr ich Bárður vermisse. Das Leben wäre einfacher, wenn du mir nicht diesen Brief geschrieben hättest. Trotzdem vielen Dank dafür. Ich glaube nicht, dass mir noch jemals jemand etwas derart Schönes schicken wird.
Dann gehen sie auf das Haus zu, klopfen an die Tür zum Keller, zweimal, dreimal, viermal.
Bist du sicher, dass sie zu Hause ist?, fragt Andrea.
Der Junge gibt keine Antwort, braucht er auch nicht, denn es gibt Bewegung an der Tür, sie wird geöffnet. Rakel guckt sie an, und sie sieht nicht besonders gut aus.
Die Decke ist niedrig, Jens müsste sich bücken, und Hjalti sicher auch. Die Erinnerung an diese beiden Männer macht den Jungen unfähig, etwas zu sagen oder das Zimmer eingehend zu betrachten. Wo liegt Hjalti mit seinem großen, einsamen Körper? Ob sie ihn gefunden haben? Wo ist er mit seinen traurigen Erinnerungen und seinem Heimweh nach einem grimmigen Hund und vielleicht nach einer Frau, die in einen Norweger verliebt war? Sofern es diese Frau denn überhaupt je gegeben hat. Es ist schmerzlich, eine Frau zu lieben, die gar nicht existiert, das ist ein großes Unglück. Und Jens? Ist er am Leben, ist er auf den Pferden nach Hause gekommen, oder haben sie einen Toten auf den Hof getragen? Das würde das Ende für Halla und ihren Vater bedeuten.
Die Sehnsucht nach diesem schweigsamen Kerl, diesem abweisenden Einzelgänger, der aber aus irgendeinem abwegigen Grund unersetzlich schien, nachdem das Leben sie einander so nah gebracht hatte, füllt sämtliche Adern des Jungen, und er vergisst beinah den bitteren Beigeschmack, dass die mit den grünen Augen an Jens denkt, dass sie ihm einen Brief zugesteckt hat, bestimmt ein Liebesbekenntnis: Komm wieder, großer, starker Mann, und hol mich! Der Junge lehnt sich an eine Wand. Es wäre ein Leichtes für ihn, mit den Fingern die Decke zu erreichen und Gíslis Schritte zu spüren, der oben über den Fußboden stampft, seine Stimme dringt bis nach unten durch, an-und abschwellend.
Nein, er hat keinen Besuch, sagt Rakel. Er redet oft mit sich selbst.
Wie nett und proper du es hier hast, stellt Andrea fest und setzt Kaffee auf, weil bei einer Tasse von diesem schwarzen Gebräu alles etwas leichter zu gehen scheint; Worte haben nicht ein solches Gewicht, nicht so viele Steinhaufen, Kaffee und der Golfstrom machen dieses Land, diese abgelegene Insel, von Feuer versengt und vom Wind verblasen, doch mit grünen Tälern wie Träumen zwischen all dem Geröll, fast bewohnbar. Rakel sitzt auf dem Bett und hält ihre beiden geschwollenen Hände wie sterbende Tierchen auf dem Schoß. Zwei Tage und Nächte hat sie wenig gegessen, kaum geschlafen und heute einfach vergessen, zur Arbeit zu gehen. Gestern auch schon.
Vergessen, zur Arbeit zu gehen?
Ja, sagt sie und runzelt die Brauen, als würde sie sich selbst wundern.
Es ist blitzsauber hier unten, unglaublich aufgeräumt. Unausgeschlafen und nicht zurechtgemacht wirkt Rakel wie ein Fremdkörper oder wie ein Gast im eigenen Heim, zu Besuch im eigenen Leben. Wie betäubt sieht sie zu, wie Andrea Kaffee macht und Zwieback hervorholt. Andrea fragt sie nicht, warum sie Oddur nicht antwortet, warum sie hier herumsitzt, anstatt zur Arbeit zu gehen, wie siehst du überhaupt aus, wie führst du dich auf? Nein, sie sagt: Wirklich schön hast du es hier. Sie sagt: Ach, woher hast du denn dieses Tuch? Das Muster habe ich schon mal irgendwo gesehen. Sie sagt: Kommst du hier aus dem Ort? Ich bin nämlich einfach nur so hier, weiß gar nicht so recht, was ich überhaupt hier soll; es fühlt sich so seltsam an, eine Entscheidung treffen zu müssen, wo und wie man leben möchte, meine ich. Sie sagt: Ich habe immer geglaubt, eine Frau solle ihrem Mann keine Schande machen, gut den Haushalt führen und Kinder haben, jawohl, Kinder haben und nicht die selbstverständlichsten Dinge infrage stellen, nicht widerborstig wie ein Schaf sein,
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