Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
eigentlich gar nichts, der versengte Merkur steht über ihnen, und die Erde ist noch feucht nach dem Frost. Es ist wärmer geworden, aber nicht warm, mittags vielleicht sieben, acht Grad, es dürften ruhig ein paar mehr sein, die Sonne dürfte wirklich gern ein Stück näher kommen und ihre Strahlen auf die Wunden hauchen, die der Winter hinterlassen hat, auf gescheiterte Hoffnungen und andere erfrorene Stellen des Lebens. Andrea und der Junge kommen von Lúlli und Oddur und sind unterwegs zu Rakel. Es ist das erste Mal, dass sie allein sind, seit sie sich in der Fischerhütte voneinander verabschiedet haben, Bárður lag erfroren auf dem Ködertisch, der Wind brüllte draußen auf dem Meer, die Berge waren im Schneetreiben verschwunden, und Andrea umarmte und küsste den Jungen, und er hat Tränen geweint; vielleicht sind sie einander zu nah gekommen, es kann einige Zeit dauern, bis man sich danach wieder in den Griff bekommt. Es ist still zwischen den Häusern. Die meisten sind bei der Arbeit, beim Entladen der Schiffe oder beim Einsalzen der Fische oder auf See, und die Kinder, die zum Arbeiten noch zu klein sind, streunen auf der Suche nach Abenteuern herum. Sie hören die Hühner in den Hinterhöfen.
Hast du viele solcher Briefe geschrieben?, fragt Andrea. Sie wollte sich anders anhören, doch ihre Stimme klingt scharf. Dennoch ist der Junge erleichtert, der Brief ist jetzt wieder zur Sprache gekommen und ruht nicht länger im Schweigen. Lúlli hat den Jungen am Abend in der Wirtsstube aufgesucht, besorgt und ratlos, denn Rakel war nicht zur Arbeit erschienen und am Vortag gar nicht sie selbst gewesen, und Oddur war am Boden zerstört, denn womöglich hatte der Brief sie dermaßen aus dem Gleichgewicht gebracht. Ob der Junge in seinem Schreiben womöglich etwas zu schnell zur Sache gekommen sei? Er solle das nicht missverstehen, der Brief sei sehr gut und Oddur sei stolz gewesen, seinen Namen darunterzusetzen, aber vielleicht sei er doch etwas heftig ausgefallen. Zu heftig? Ob der Junge sich vorstellen könne, einmal nachzusehen, einmal ganz kurz bei ihr nach dem Rechten zu sehen? Das Herz des Jungen klopft schneller, hat er es schon wieder getan, ein Leben durcheinandergebracht, indem er Worte zu Papier gebracht hat? In dem Fall wäre es Feigheit und Verrat, sich wieder zu drücken. Er hat Andrea dazu gebracht, ihn zu begleiten, sie hatte auch das meiste von seinem Gespräch mit Lúlli mitbekommen, denn gegen Ende des Abends war nicht mehr viel zu tun, und sie hatte neben dem Jungen gestanden, der einem ratlosen Lúlli gegenübersaß, und ihm übers Haar gestrichen wie früher manchmal in der Fischerhütte, doch hatte sie die Hand zurückgezogen, als sie von dem Brief hörte.
Und jetzt fragt sie also, ob er viele solcher Briefe geschrieben habe.
Nur an dich, antwortet der Junge lauter als beabsichtigt, und für Oddur an Rakel, er hat mich nämlich darum gebeten.
Ist das das Haus?, fragt sie und bleibt vor Rektor Gíslis Haus stehen.
Ja, murmelt der Junge und zuckt zusammen, als er Gísli hinter einer Fensterscheibe sieht.
Und diese Rakel wohnt im Keller?
Ja.
Kennt ihr euch?
Nein.
Habt ihr schon einmal miteinander geredet?
Nein.
Was stand in dem Brief? Hast du sie vielleicht aufgefordert, so wie du es auch mir geschrieben hast, ihr Leben infrage zu stellen? Hast du gesagt, sie würde es verraten, wenn sie diesen Oddur nicht heiraten würde? Hast du ihr gesagt, der Weg zu einem ruhigen, gesetzten und tauben Leben bedeute, seine Umgebung nie in Zweifel zu ziehen?
Der Junge schaut weg und krampft die Hände in den Fäustlingen zusammen. Andrea seufzt leise. Sag mir einfach, was in dem Brief stand.
Daraufhin spult der Junge den Inhalt des Briefes ab, als habe er nur darauf gewartet, er kann ihn auswendig, bis auf Punkt und Komma. Dann ist er fertig.
Glaubst du, du hattest ein Recht, so etwas zu schreiben?, fragt Andrea, ohne das Haus aus den Augen zu lassen, und da schaut der Junge es auch an, schließlich kann man es ja einmal in Ruhe betrachten.
Als Gísli vor gut zehn Jahren eingezogen ist, hat er es rot anstreichen und seitdem den Anstrich immer wieder erneuern lassen. Er war mitten in das alte Viertel gezogen, sehr zum Ärger seines Bruders Friðrik, der ihn extra aus Kopenhagen zurückgeholt hatte, um die neu gegründete Schule im Ort zu leiten. Dass Gísli nach Hause gekommen war, war eine Sensation, die sogar in den Þjóðviljinn Eingang fand. Das Blatt veröffentlichte die Meldung mit einem
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