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Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Titel: Das Herz des Menschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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begonnen hat, obwohl es regnet und schneit und das Eis, das sie am Morgen abgeschlagen haben, noch immer auf der Erde liegt, so kalt ist es. Du hast offenbar nie ein Kind verloren, du weißt gar nicht, wie hart das Leben sein kann. Da schlägt Rakel die Augen nieder und hört vorläufig auf zu singen. Der Junge sieht, wie ihr Gesicht rot anläuft.
    Hast du nichts anderes zu tun, als Leute bei der Arbeit zu stören?, sagt der Schichtleiter, der plötzlich neben dem Jungen auftaucht. Der kehrt ins Haus zurück und schreibt den Brief, den er im Kopf schon fast fertig hatte, einige Sätze hatte er auch schon notiert. Er bringt den Brief rasch zu Papier, steckt ihn in einen Umschlag und geht damit zu Rakel. Sie wohnt in einer dunklen Kellerwohnung im alten Ortskern, zwei kleine Zimmerchen im Keller von Rektor Gíslis Haus; die Tür ist nicht abgeschlossen. Der Junge legt den Brief drinnen ab und hat es also wieder getan: Er hat Worte von sich gegeben, die ein Leben verändern.

VI
    Als der Junge in die Küche kommt, sitzt Andrea wie so oft am Tisch und hat ihre abgearbeiteten Hände um die Kaffeekanne gelegt, um sich daran zu wärmen. Es tut gut, die Wärme des Kaffees in die Hände strömen zu fühlen, sehr gut, aber es tut auch ein bisschen weh, wenn du nur die Kanne hast und keine Hand, die du halten kannst. Natürlich war Pétur nie sehr für Händchenhalten gewesen, schon gar nicht, wenn andere dabei waren. Gut, manchmal an dunklen Abenden unter der Decke, wenn sie die drückende Einsamkeit empfand, die aus den Ecken zu kriechen schien, eine ungreifbare, kalte Einsamkeit, dann suchte ihre Hand unwillkürlich die seine, Handfläche schob sich in Handfläche, und sie drückte leicht zu. Entweder tat er dann so, als würde er es nicht bemerken, oder er drückte leicht zurück, unmerklich fast, aber doch spürbar, und diese kleine Geste war gar nicht so klein, sie fühlte sich wunderbar an. Viel zu oft aber lag er dann stocksteif da, als wäre es ihm unangenehm, und dann zog sie ihre Hand zurück.
    Nahm er sie denn nie in den Arm?
    Von sich aus liegt ihm nicht viel daran, sagt Andrea, aber manchmal tut er es schon, wenn ich ihn darum bitte, in der Nacht, wenn ich sicher bin, dass alle anderen schlafen, dann frage ich ihn, ob er mich mal in den Arm nehmen kann.
    Und tut er es dann?, fragt Helga.
    Natürlich nicht immer. Vielleicht ist er gerade eingeschlafen, wenn ich ihn berühre, und dann wird er böse.
    Manchmal nimmt er sie aber auch in seine kräftigen, warmen Arme. Pétur ist sehr stark.
    Und das tut gut?
    Ja, sagt Andrea, das tut gut, und manchmal sage ich zu ihm, lass uns so liegen, bis wir einschlafen, und es ist wunderschön, so dicht neben ihm einzuschlafen, er fühlt sich so warm an, aber er hält es nicht immer aus, mich so zu spüren, es erregt ihn, und dann hört er nicht mehr auf, bis er fertig ist. Danach schläft er ein wie ein Stein, aber ich liege noch lange da und kann nicht einschlafen. Es kann natürlich auch mal schön sein, klar, aber man ist ja nicht immer dazu bereit, manchmal will man sich doch einfach nur in den Arm nehmen lassen, und außerdem muss ich mir oft anschließend noch das Gestöhne von Einar anhören.
    Einar, ist das dieser Hässliche mit dem schwarzen Bart?
    Ja.
    Was für ein Gestöhne? Du meinst doch nicht etwa …?
    Doch, er scheint fast jedes Mal aufzuwachen, wenn wir irgendwas machen, als würde er darauf lauern. Er wartet dann, bis Pétur eingeschlafen ist, und fängt dann selbst an, na ja, du weißt schon, und dann muss ich mir anhören, wie er an sich rummacht, bis es ihm kommt. Der Kerl muss unglaublich einsam sein.
    Kolbeinn wird immer unleidlicher, je weiter die Frühlingshelligkeit fortschreitet. Ich bin immer lichtscheu gewesen, hat er einmal gesagt, und deswegen ist mir das Augenlicht genommen worden. Meist kommt der Junge vor ihm nach unten, tritt in Helgas und Andreas leise Unterhaltung, die anfangs sofort verstummte, doch das ist nicht mehr so, als brauche man vor ihm nichts mehr geheim zu halten. Er isst, liest in dem Buch, das er mit nach unten nimmt, oder in den Blättern, die er mit Gedichten aus Svanhvít vollgeschrieben hat, er vertieft sich in Lyrik, horcht dann und wann einmal auf und hört diese Geschichte mit Pétur eigentlich von Anfang an, und diese Sache mit Einar, wie er in seiner Koje liegt, wenn Pétur eingeschlafen ist, und mit einer Hand unter der Bettdecke herummacht. Was für ein Schwein der Kerl ist, so was tun doch bloß ganz widerliche Typen,

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