Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
Foto von ihm. Unser hochgelehrter Schulrektor, stand daneben. Er hatte dichtes, streng zurückgekämmtes Haar und guckte, als würde er etwas sehr Bedeutendes denken. Sechs Jahre Studium lagen hinter ihm, der Mann musste einfach alles wissen. Sechs Jahre Naturwissenschaft und Dichtkunst, pflegt Gísli zu sagen, nur die besten Noten. – Aus der Gosse geholt, sagen andere, aus den verlausten Lotterbetten von Huren, abgebrannt war er, total pleite und verschuldet, sein letztes Hemd hatte er versetzt.
Friðrik hatte geplant, Gísli eine Wohnung im Obergeschoss der Schule einzurichten, doch Karólína, die Stammmutter der Familie, die im Gegensatz zu ihrem Mann, einem grimmigen Satan, den der Teufel vor vielen Jahren schon in einem Stück verschlungen hatte, noch lebte, ließ wissen, wenn er wolle, dürfe sich ihr Gísli natürlich ein Haus nach eigener Wahl kaufen. Und obwohl Karólína vom Alter gebeugt ist und sich seit Jahren nicht mehr gerade aufgerichtet hat, wagt es niemand, sich gegen sie aufzulehnen, nicht einmal Friðrik. Gísli dankte es ihr, indem er sich dieses Haus kaufte, diesen Schuppen mitten im alten Ortskern unter lauter einfachen Leuten, kreischenden Kindern und gackernden Hühnern.
Von deinem Platz unter dem Rockzipfel unserer Mutter provozierst du mich, mein lieber Bruder, hatte Friðrik mit solcher Kälte gesagt, dass Raureif seine Worte überzog.
Das sind die schrecklichen Folgen der Französischen Revolution, hatte Gísli zurückgegeben und das Haus rot gestrichen, um die Umgebung zu beleben; auch das galt als Neuigkeit, die eine Erwähnung im Þjóðviljinn wert war, jahrelang das einzige farbig gestrichene Haus im Ort, rot steht es zwischen den schwarzen, düsteren Häusern, rot wie ein Rubin, rot wie ein Schrei der Verzweiflung, rot wie ein blutendes Herz.
Ich wollte Oddur helfen, sagt der Junge schließlich leise und wendet den Blick von dem Haus.
Prima, aber du hast nicht bedacht, was du damit bei Rakel anrichtest, Wörter können Auswirkungen auf Menschen haben, das solltest du eigentlich wissen, und zwar nicht zuletzt die Wörter, die auch noch niedergeschrieben wurden, sie dringen in dich ein und lassen dich nicht in Frieden, das ist nicht einfach, und währenddessen soll man noch sein normales Leben weiterführen, als wenn nichts gewesen wäre.
Andrea hat völlig recht. Wörter, die geschrieben wurden, vergessen nichts und bewahren alles; vielleicht liegen sie irgendwo in der Vergessenheit und in der Dunkelheit, aber sie leuchten auf, sobald jemand in ihre Richtung schaut.
Weshalb hast du mir über Simmi deinen Brief geschickt, warum hast du darin formuliert, was du geschrieben hast, wer hat dir das Recht dazu gegeben?
Der Junge wagt Andrea nicht anzublicken, tut es aber trotzdem. Ihre Lippen sind ein schmaler Strich. Wohin ist die Güte verschwunden, die sie so anziehend und die Welt erträglicher macht und die Menschen, blinde wie sehende, zu ihr hinzieht?
Du bist zu gut für Pétur, sagt er.
Wer hat dir das Recht gegeben, so etwas zu schreiben?
Ich weiß es nicht, ich musste es einfach tun.
Das ist keine Antwort.
Du bist mir nicht egal.
Ich? Das ist auch keine Antwort.
Aber das ist anscheinend das Einzige, was ich besser kann als andere, so zu schreiben, im Grunde ist es das Einzige, was ich überhaupt kann im Leben, und du bist mir nicht gleichgültig, du bist zu gut für Pétur. Nie sagt er dir mal etwas Schönes, und du wirst unglücklich, aber das Leben ist zu kurz, um unglücklich zu sein.
Du lieber Gott, Junge, was weißt du denn über Glück und Unglück zwischen Eheleuten?
Wahrscheinlich nichts, gibt er zu. Aber ich habe schon Glück gesehen, und außerdem hast du ihn verlassen. Bereust du es etwa?
Ich weiß es nicht, ich weiß überhaupt nichts mehr, sagt sie, und Zorn und Härte scheinen von ihr gewichen zu sein.
Hätte ich dir den Brief nicht schicken sollen?
Vielleicht wäre mein Leben einfacher verlaufen, wenn ich dir und Bárður nicht begegnet wäre. Ihr habt mich verunsichert. Dann stirbt er, und dann kommt dieser Brief und gibt mir das Gefühl, es ginge um mich, als wäre ich von Bedeutung, und jetzt stehe ich hier und weiß nicht ein noch aus.
Aber du hast ihn verlassen. Das ist doch schon einmal was.
Tatsächlich? Und bin ich wirklich weggegangen, kann man sein Leben verlassen? Bin ich nicht einfach nur zum Einkaufen in den Ort gekommen? Was bringt es mir denn, zu träumen? Ich bin verheiratet und eine Frau. Die Leute werden sagen, ich hätte
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