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Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Titel: Das Herz des Menschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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sich selbst vertraut er voll und ganz, so läuft er herum, sitzt in seinem Kontor, empfängt Arbeiter und Fischer, die ihm Bericht erstatten und dafür ein klein wenig Wohlwollen erhalten, einen kleinen Wechsel für die Zukunft; Einzelne hat Friðrik ausgesucht, damit sie an den Verarbeitungsplätzen oder draußen auf See auf und unter Deck sein Auge und sein Ohr sind, ihm zutragen, was geredet wird, wie die Leute sich aufführen, wer sich drückt. Überall sind seine Augen und Ohren, er will alles wissen, nichts ist zu klein und unbedeutend. Die Firma beschäftigt im Sommer bis zu fünfhundert Mitarbeiter, die müssen beaufsichtigt werden, man muss das Beste aus ihnen herausholen, jedes Gemauschel unterbinden, sonst läuft bald alles verkehrt, schleichen sich Schlamperei, Undiszipliniertheit, Faulheit und Unachtsamkeit ein, und die Qualität lässt nach, dadurch fällt der zu erzielende Preis, die Firma macht Verlust und damit auch der Ort, damit wir, und damit fällt ein Schatten über alles, harte Zeiten kommen auf uns zu, vielleicht sogar der Tod, es lastet also große Verantwortung auf Friðrik, wenn er tut, was er tun muss. Wer an der Spitze steht, darf sich keine Kleinlichkeit, keine Rücksichtnahme erlauben, dies ist ein gnadenloses Land, Rücksichtnahme tötet, Nachgiebigkeit tötet, und Träume können auch töten. An die fünfhundert Menschen, zu Wasser und an Land, Kaufleute, Arbeiterinnen und Arbeiter in der Fischverarbeitung, viele von ihnen Saisonarbeiter von Snæfellsnes oder aus der Húnavatnssýsla und von noch weiter her, kommen mit den Küstenschiffen an, gehen oder schwanken an Land, nicht alle von ihnen sind seefest, gucken sich um, gucken die Berge an, steil wie ein Schrei, Unterland gibt es fast nicht, und erstaunt fragen diese Menschen: Und wo sind die Wiesen?

X
    Wörter sind kein totes Gestein oder abgenagte und vom Wind geschliffene Knochen oben in den Bergen. Selbst die alltäglichsten Wörter können mit der Zeit ungebräuchlich werden und sich in Museen verwandeln, die eine vergangene Zeit aufbewahren, etwas, das verschwunden ist und niemals wiederkommt. Heuwiesen, Grummetwiesen, wir werden gerührt von solchen Ausdrücken, es versetzt uns einen Stich, wie wenn wir überraschend alte Fotos finden und darauf Gesichter wiedersehen, die seit Langem im Meer oder in der Erde verschwunden sind. Wo sind die Wiesen? Und wir erinnern uns an stille Sommermorgen, so still und ruhig, dass wir beinahe meinten, Gott hören zu können, aber wir denken auch an harte Arbeit, an nasse Füße, die nasse Mahd, an die entsetzliche Müdigkeit, wir erinnern uns an das, was vergangen ist und nie wiederkehrt, wir erinnern uns so schmerzlich daran, dass wir einmal gelebt haben, einmal durften wir Händchen halten, es gab einmal kindliche Fragen. Einmal haben wir gelebt, einmal hatten wir Namen, und sie wurden manchmal so ausgesprochen, dass die Wüsten des Lebens ergrünten. Einmal waren wir am Leben, aber wir sind es nicht mehr; was uns umfängt, nennt sich Tod. Wo sind die Wiesen?

XI
    Schlägt dein Herz noch?
    Und wenn ja, wie schlägt es?
    Verflucht noch mal. Der Junge bekommt einen Brief, und darin wird nach dem Herzschlag gefragt. Als wäre es nicht Herausforderung genug, zu leben.
    Er wacht jeden Morgen gegen sechs auf, streckt einen Arm aus und greift nach einem Buch mit Gedichten, die er liest, um aus seinen Träumen in einen zerbrechlichen Morgen zu finden, er verknüpft Tag und Nacht, Traum und Wachsein durch Gedichte miteinander, einen besseren Weg aufzuwachen gibt es wohl kaum für einen Menschen. Die Fragen verschwinden aber trotzdem nicht. Was soll er aus seinem Leben machen, liebt er Ragnheiður, die er seit seiner Wanderung mit Jens zweimal wiedergesehen hat, seit ihrer Reise durch schwere Schneestürme, Leben und Tod zum Ende der Welt? Das erste Mal sind sie sich draußen auf der Straße wiederbegegnet, und sie guckte ihn an, als wäre er ein Nichts oder noch weniger als das. Am nächsten Tag wollte er in die deutsche Bäckerei, und da kam Ragnheiður gerade mit dänischem Plundergebäck für ihren Vater Friðrik aus dem Laden, Plundergebäck ist so ziemlich der einzige Luxus, den er sich gönnt, und Ragnheiður ist die Einzige, die es ihm kaufen darf. Und da wollte sie den Jungen auf einmal kennen und sprach ihn an: Ich habe gehört, du hast dich auf deiner Tour mit dem Säufer beinahe umgebracht. Was fällt dir ein, zu sterben, bevor ich nach Kopenhagen gehe?
    Jens ist kein Säufer, gab er

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