Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
mit einem leichten Anflug von Schwindel zurück. Ihre Augen stehen übrigens ein bisschen weit auseinander, diese grauen Augen, die kalt sein können wie Eis, wie das Blut der Dorsche. Zwischen ihnen liegt mein Schicksal, dachte er unwillkürlich.
Ein neuer Pullover, stellte sie fest.
Ja.
Sieht gut aus. Anziehen können sie dich. Da sitzt eine Fluse auf der Schulter, hat Ragnheiður gesagt und ihm über die rechte Schulter gestrichen.
Schlägt dein Herz noch? Und wozu?
Das Leben ist komisch. Solange er zurückdenken kann, war Bildung das gelobte Land, das überall aus den Briefen seiner Mutter leuchtete – bis dahin bestand seine einzige Schulbildung aus dem Konfirmationsunterricht und einem Monat bei einem Wanderlehrer, als er zehn oder zwölf Jahre alt war. Trotzdem konnte er fließend lesen und schreiben, als die See seinen Vater holte, und er übte weiter, wann immer er konnte, kratzte Buchstaben in Eis, ritzte sie in morsche Balken am Dach von Ställen, schrieb in den Schnee, anfangs war er kaum zu bremsen, versäumte seine Aufgaben, die Balken konnten seine Worte kaum noch tragen, und eines Tages, als die Leute auf dem Hof aus dem Haus traten, konnten sie vor Wörtern fast nirgends hintreten. Der Junge hatte wegen des Mondlichts nicht schlafen können, war noch in der Nacht nach draußen gegangen und hatte überall in den Schnee geschrieben. Zwölf saftige Schläge drei Tage nacheinander und kein Abendessen brachten ihn zur Räson. Er wurde nicht aus Bosheit geschlagen, sondern weil es notwendig war, denn erstens brachte es Unglück, in Schnee oder Schmutz zu schreiben, zweitens warteten die Pflichten auf ihn, und wie sollen die Menschen in diesem Land überleben, wenn sie ihre Arbeit versäumen? Und was soll einmal aus dir werden, wenn sich herumspricht, dass du in den Schnee geschrieben hast, anstatt zu arbeiten? Du wirst ganz schnell bei der Gemeinde landen, man wird dich treten wie einen Hund, deswegen bekommst du dieses Dutzend Schläge, lass es dir eine Lehre sein, du bekommst sie nicht aus Bosheit, sondern aus Notwendigkeit und Fürsorge.
Jetzt wacht er auf, erledigt ein paar leichte Arbeiten und bekommt zweimal in der Woche Unterricht von Gísli, dem gebildetsten Mann im Ort, des Bezirks oder sogar des ganzen Landesteils und Leiter der Schule, zweimal pro Woche Englisch bei Hulda und manchmal Rechnen bei Helga. Er wacht morgens auf, verbindet Traum und Wirklichkeit mit Gedichten, eine Wirklichkeit, in der er aufgefordert ist, sich zu bilden. Was in weiter Ferne lag, hat ihn eingeholt, er fragt sich immer noch: Wozu lebe ich, in welche Richtung entwickelt sich das Leben? Und dann bekommt er einen Brief.
Schlägt dein Herz noch?
Und wenn ja, wie?
Es schlägt wie in einem Ertrinkenden, wie in einem Vogel ohne Flügel. Was soll er darauf antworten? Natürlich bedeutet es viel, einen Brief zu bekommen. Es bedeutet, dass dich jemand so wertschätzt, dass er bereit ist, sich eigens hinzusetzen und nach Worten zu suchen und so lange an dich zu denken, wie es nötig ist, um den Brief zu Papier zu bringen. Einen Brief zu bekommen deutet darauf hin, dass es dich gibt, dass du eher Licht als Dunkel bist. Allerdings sind nicht alle Briefe gut, und manche wären vielleicht besser nie abgeschickt, geöffnet und gelesen worden, manche sind voller Hass und Vorwürfe, sie sind Gift, das alle Kraft aus dir saugt, sie bringen Dunkelheit und Enttäuschung.
Du hast Post bekommen, hat Andrea gesagt und dabei spöttisch geguckt.
Post?, hat er verdutzt gefragt, denn wer sollte ihm schon Post schicken? Seine Mutter hat ihm elf Briefe geschrieben, er besitzt sie noch alle, ein zwölfter kam nie.
Vielleicht von Séra Kjartan, hat er etwas unüberlegt gesagt, denn weswegen sollte Kjartan ihm schreiben, wozu sollte ein derart gelehrter, kluger Mann, Besitzer vieler Bücher, seiner Existenz so viel Interesse beimessen?
Vielleicht von Séra Kjartan, hat er dann gemeint. Gerade war er aus der Englischstunde bei Hulda in der Wirtsstube gekommen. Eine Doppelstunde Englisch, Singular, Plural, bestimmter, unbestimmter Artikel, a table, tables, an apple, apples .
Hast du schon mal einen Apfel gegessen?, hatte er Hulda gefragt, während er dieses Wort für ein rundes, exotisches Obst hinschrieb, das etwa so weit von unserem Alltag entfernt war wie der Jupiter.
Nein, sagte Hulda schnell und log. Teitur erhielt zwar manchmal Äpfel von ausländischen Seeleuten, die öfter kamen und so etwas wie Bekannte geworden waren, aber es
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