Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
war einfacher, Nein zu sagen, ein Nein ist eine Brustwehr zu ihrer Verteidigung. Nein, sagte sie, und du kommst nicht an sie heran. Nein, sagte Hulda und betrachtete den Jungen mit einem raschen Blick zwischen den Zinnen hervor, und er hatte es sich nicht verkneifen können zu fragen: Gibt es Liebe wirklich in allen Sprachen in der Mehrzahl?
A love , antwortete sie, loves .
Mit Vogel-V?
Ja, mit V, aber du brauchst es nicht aufzuschreiben, es gehört nicht zum Lehrplan.
Liebe steht nicht auf dem Lehrplan?
Nein, nur Äpfel, antwortete sie und senkte den Kopf, um ein Lächeln zu verbergen.
Séra Kjartan?, hatte Andrea nachgefragt.
Er wohnt in Vík. Erinnerst du dich nicht? Jens und ich haben am zweiten Abend bei ihm übernachtet. Seine Frau heißt Anna, sie ist fast blind.
Doch, ja, aber der Brief dürfte kaum von ihm sein, die Schrift ist von einer Frau; zumindest hat eine Frau den Umschlag beschriftet.
Eine Frau, sagte er überrascht. Dann ist er von María an der Winterküste.
Er nahm den Umschlag in Empfang, warf einen Blick darauf und erschrak, als er die Schrift sah, die Intensität in den Buchstaben, als würden sie ineinanderlaufen.
Sie kämpfen miteinander, sagte er und erklärte auf Andreas fragenden Blick: Ich meine die Buchstaben.
So heftig ist sie also, bemerkte Andrea und lächelte den Jungen an, der vor Herzklopfen kaum etwas hörte.
María würde nie so schreiben, sie kann sicher auch heftig sein, es brennen Feuer in ihr, manchmal weint sie über etwas, was sie verpasst, sie weiß nicht, was es ist, fühlt nur, dass sie irgendetwas versäumt, und dann nimmt Jón sie in den Arm, seine Umarmung ist warm und fest, aber sie umfängt nicht den Horizont. Nein, María würde sicher ordentlicher schreiben, sie schickt nur das Beste ab und würde kleiner schreiben, nicht so viel Platz vergeuden, sie kann gar nicht anders.
Er betrachtete den Umschlag. Ja, sagte er, sie ist heftig. Wie schlägt dein Herz? So heftig, dass weidende Tiere in Afrika die Köpfe heben, so heftig, dass Vögel am Himmel vom Kurs abkommen. Wir können noch mal kurz Englisch durchgehen, hat er zu Andrea gesagt, die ihn daraufhin breit angelächelt hat, und ihm ist bei diesem Lächeln warm geworden, so warm, dass er sich an den Tisch setzen und Singular und Plural im Englischen noch einmal wiederholen konnte, ohne vor Ungeduld verrückt zu werden. So blieb er ruhig sitzen, lehnte sich manchmal zu Andrea hin, ein warmer Duft geht von ihr aus, manchmal mit leichtem Modergeruch aus dem Kellerzimmer gemischt, und sie hat ihm zweimal mit ihren abgearbeiteten Fingern über die Wange gestrichen, und so saßen sie da, zwei Menschen weit draußen auf dem unsicheren Meer des Lebens, von starken Strömungen umgeben. Er atmete Andreas Duft ein, und der Brief vibrierte, wo er seine Haut berührte.
Jetzt sitzt er in seinem Zimmer. Schlägt dein Herz?
XII
Schlägt Dein Herz noch? Und wenn ja, wie? Ich sitze an der Hauswand. An der gleichen, auf die Ihr gestoßen seid, Du und der große Mann, dieser Jens. Die Sonne scheint, und alles ist durch und durch nass. Man bekommt nasse Füße, wenn man nur aus dem Fenster guckt. Aber die Sonne scheint jetzt warm. Das muss man ihr lassen. Der Frost im Boden taut. Darum ist die Erde so nass, als würde sie weinen. Ich sitze auf einem Hocker. Ich habe ein Buch mit nach draußen genommen, um etwas zu lesen, ich hatte gar nicht vor, Dir zu schreiben. Das Buch ist ziemlich dick. Die Odyssee heißt es und ist uralt. Steinunn meinte, es wäre etwas »Klassisches«. Ich nehme an, Du kennst es. Du bist so einer. Das habe ich gleich gesehen. Dann weißt Du also auch, dass es von einem Mann handelt, der nach Hause zurückkehren will, aber in allerlei Schwierigkeiten und Strapazen gerät. Seine Frau muss in der Zwischenzeit zu Hause auf ihn warten. Klar, sie hat einen Palast und genug zu essen, es ist warm da, und keiner wird vom Schnee zugeweht. Trotzdem war es sicher nicht leichter, damals zu leben. Zu warten ist bestimmt auch dann nicht einfacher, wenn das Wetter schön ist und das Haus nicht undicht ist. Ich glaube das nicht. Sie muss warten und weiß nicht einmal, ob er tot ist oder sie mit anderen Frauen betrügt. Sie wartet nur still, geduldig und treu, während er Abenteuer besteht und sogar ein Buch über ihn geschrieben wird. Man fragt nicht nach Frauen. Man fragt nicht nach Männern. Dann kam ich auf den Gedanken, Dir zu schreiben. Also habe ich wohl an Dich gedacht, so muss es sein, aber es braucht
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