Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
wieder, richtig gut. Aber kannst du mir ein Individuum, einen lebenden Menschen nennen, der mehr Macht hat als ein König?
Nein.
So, so, dann folgt eine Frage, an der du dir die Zähne ausbeißen kannst: Wenn der König über all diese unbegreifliche Macht verfügt, kann er dann jemanden begnadigen, der die Treue bricht, kann er jemanden amnestieren, der sein Wort nicht hält, kann der König jemanden begnadigen, der sich selbst verraten hat?
Soll das Unterricht sein?, erkundigt sich Kolbeinn, obwohl er gar nicht anwesend ist, und stößt den Stock auf den Boden, weil er nämlich auf eine Fortsetzung der letzten Stunde gehofft hat. Da war es um die Griechen gegangen, Gísli hatte von Athen erzählt, vom Reich der Griechen, einer Weltmacht der Kultur, einem Großreich des Denkens. Es gab hundertfünfzehntausend Sklaven in Griechenland, sie verrichteten sämtliche Arbeiten, die Griechen konnten also ausgeruht nachdenken, brauchten nie in zerbrechlichen Booten auf die Ägäis zu rudern, mussten sich nicht außerhalb der Häuser im Freien aufhalten, in Hitze und Staub schuften, die körperliche Arbeit machte sie nicht krumm und klein, sie reichten fast bis an den Himmel, indem sie auf den Schultern von Sklaven standen. Der Mensch ist grausam. Wir sollten uns nicht für die begeistern, die am höchsten herausragen, bevor wir wissen, worauf sie stehen, ob auf eigenen Füßen oder auf dem Leben von anderen.
Ist das etwa Unterricht? Nennt sich das Gelehrsamkeit?, fragt Kolbeinn wieder. Hast du das von denen in Kopenhagen?
Dafür, dass du gar nicht anwesend bist, redest du verdammt viel, merkt Gísli an. Du willst deine Griechen wiederhaben, möchtest lieber Tatsachen. Warte nur ab, die kommen auch noch. Ich weiß sehr wohl, was Bildung bedeutet, ich weiß, worauf es ankommt, und ich werde es euch beibringen, daran soll es nicht fehlen, nur für anderes fehlt mir der Mut. Ich will bloß den Jungen ein klein wenig verderben, dafür eignet er sich gut. Auf die Griechen komme ich zurück, darauf kannst du dich verlassen. Was heißt es eigentlich, sich selbst zu verraten?, fragt Gísli den Jungen, ohne seinen Monolog zu unterbrechen. Der gibt sich Mühe, dem zu folgen, was Gísli von sich gibt, und zugleich seine Gedanken an Geirþrúður wegzuschieben, an diese alte Frau, die kein bisschen alt ist und die gerade rittlings auf einem von Jóhanns Pferden aus dem Ort sitzt.
Jetzt hört euch das an, hatte Árni letzten Winter in der Fischerhütte gesagt und aus dem Þjóðviljinn vorgelesen: Vornehme Damen in Paris, London und New York benutzen keine Damensättel mehr, sondern sitzen neuerdings wie Männer zu Pferd, rittlings.
Rittlings?!, hatte Einar erhitzt gerufen. Ha! Was kommt denn als Nächstes? Was gibt es denn eigentlich noch alles in dieser verrückten Welt?
Der Junge schließt die Augen, als wollte er sich so schnell wie möglich losreißen: Sich nicht zu trauen.
Gísli: So, aha, sieh mal an! Sich was nicht zu trauen?
Der Junge: Zu leben. Sich nicht trauen, den Mund aufzumachen und zu reden. Keinen Mut, die Angst zuzulassen. Nicht zu versuchen … den Sturm und die Dunkelheit in sich selbst zu überwinden. Wenn man nichts tut, verrät man alle, die einem wichtig sind. Wenn es noch welche gibt, die wichtig sind, wenn noch welche am Leben sind, meine ich. Aber vielleicht kommt es gar nicht darauf an, ob sie lebendig oder tot sind, denke ich. Man soll auch die Toten nicht enttäuschen, wir sollten auch für sie leben, sie dürfen nicht in Dunkelheit und Kälte bleiben, und sie dürfen nicht auf dem Grund des Meeres vergessen werden.
Hört euch das an, sagt Gísli. Aus welchem Buch hast du das denn?
Der Junge schlägt den Blick nieder, es gehört sich nicht, stolz darauf zu sein, dass man einmal gesagt hat, worauf es ankommt.
Was sagst du denn dazu, alter Seebär?, fragt Gísli und schaut Kolbeinn an, der keine Antwort gibt. Richtig, du bist ja gar nicht hier, murmelt Gísli. Das Dunkel in einem selbst überwinden. Ja, ob Paragraf zwölf des Grundgesetzes nicht genau das meint?
Hjalti hat das mit der Dunkelheit und dem Sturm gesagt.
Welcher Hjalti?
Der Jens und mich von Nes aus mit dem Sarg begleitet hat. Er war dort Knecht. Das Wetter war schlecht, und er hat es nicht geschafft.
Das geht vielen so, sagt Gísli und guckt aus dem Fenster.
IX
Der Dorsch, der den ganzen Winter lang weit von der Menschenwelt entfernt so glücklich, wie sein kaltes Blut es zuließ, über den Meerestiefen geschwommen ist, liegt
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