Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
der Junge, als er die Tür öffnet: Ich komme von weit her in dieses Haus, ich bin über ein Meer gekommen, das größer ist als das Leben, ich bin Tage auf meinem Schiff gefahren, um dieses Klopfen erklingen zu lassen, ich bin schnell gesegelt, und der Wind, der in die Segel blies, heißt Verlangen und sogar Liebe. Der Junge öffnet die Tür und begrüßt denjenigen, der so angeklopft hat, den Kapitän, den er Anfang April zum ersten Mal gesehen hat, als Bárður gerade gestorben war. Damals hatte der Junge mit einem Kopfnicken gegrüßt, der Fremde aber hatte ihn mit einer Art Wärme und Freundlichkeit angesehen. Jetzt begrüßt der Kapitän, der vor gut einem Tag eingetroffen ist und den größten Teil des Tages im Haus verbracht hat, den Jungen mit einem Lächeln und englischen Worten, das Tageslicht strömt über sie beide in den Flur und erfasst auch Geirþrúður, die in einem dicken, grünen Pullover nach unten gekommen ist. Ihr schwarzes Haar fällt über das Grün, und sie lächelt, nicht sehr, aber doch erkennbar, und ihre leicht schief stehenden Zähne erinnern uns an die Unvollkommenheit. Sie sagt etwas auf Englisch, der Kapitän antwortet, legt seine große Hand aufs Herz, hebt dann beide Hände, lächelt breit, sieht gut aus, seine blauen Augen haben etwas Magnetisches. Gísli kommt aus dem Wohnzimmer, taucht hinter Geirþrúður auf und guckt.
Sie kommt nach vorn und stellt sich ganz nah neben den Jungen, um die beiden Männer, Gísli und den Kapitän, miteinander bekannt zu machen. Während die Männer ein paar Sätze miteinander wechseln, sagt Geirþrúður leise zu dem Jungen und ist ein klein wenig angespannt: Wir wollen uns von Jóhann Pferde leihen und ein wenig ausreiten. Ich werde kaum vor Abend zurück sein, aber warte mit dem Vorlesen auf mich. Wie sehe ich aus?
Das Letzte, die Frage, sagt sie so, als käme es ihr wirklich auf seine Antwort an.
Du bist schön, sagt er und setzt noch hinzu, weil man schließlich stets die Wahrheit sagen soll, in anderen Ländern würden Männer deinetwegen Krieg anfangen, und Dichter würden Gedichte auf dich schreiben.
Dafür bekommt er einen Kuss von ihr, weiche Lippen, heißer Atem auf seiner Wange.
Ich habe ja gesagt, du wirst noch einmal gefährlich, wispert sie ihm ins Ohr und lacht leise, ein bisschen wie ein junges Mädchen. Wenn du deine Unschuld verlierst. Versuche sie noch eine Zeit lang zu bewahren.
Es ist eine Erleichterung, sich so unerwartet in der Sprache kultivierter Menschen unterhalten zu können. Man kommt einmal raus aus allem, kriegt vorübergehend Luft und Erquickung, dieser Kapitän ist fast ein zivilisierter Mensch, allerdings verheiratet, und er weiß nicht, was seine Frau dazu sagen würde, dass ihr Mann hier am Ende der Welt mit einer Frau loszieht, von der manch einer sagt, sie sei von Unmoral und Sünde gezeichnet; ist doch mal was anderes, eine Frau in Hosen zu sehen. Gísli führt die Kaffeetasse zum Mund, seine Hand zittert leicht, er hat seit gestern nichts getrunken, vielleicht liegt es daran. Du läufst, sagt er dann rasch, trinkt noch einmal, steht am Fenster und schaut hinaus, wirft dem Jungen einen schnellen Blick zu. Du rennst, als ob der Teufel hinter dir her sei. Warum läufst du so schnell?
Der Junge windet sich, als wäre er etwas Unangenehmes gefragt worden, da tritt Kolbeinn ein, wie er es gern tut, wenn Gísli unterrichtet. Er setzt sich aufs Sofa, beugt sich vor auf seinen Stock, wartet, lauscht, wendet ihnen sein besseres Ohr zu.
Ja, ja, sagt Gísli, nachdem er den blinden Kapitän mit abwesendem Gesichtsausdruck ein Weilchen betrachtet hat … kann begnadigen und Amnestien gewähren, Punkt, Anführungszeichen oben, hast du das?
Ja, sagt der Junge. Wohin mag Geirþrúður mit dem fremden Kapitän gehen, und was werden die beiden tun? Als ob du das nicht wüsstest, denkt er und guckt auf die Anführungszeichen, die den Satz beschließen. Was für umständliche Satzzeichen!
So, gut, sagt Gísli. Und woher kommt dem König diese große Macht zu, Verbrecher zu begnadigen? Du hast ein Verbrechen begangen, jemanden umgebracht, etwas Wertvolles gestohlen, aber ich vergebe dir. Wie kann er das sagen, woher hat er die Macht dazu?
Ich weiß nicht.
Das ist keine Antwort. Versuch es mal! Nie aufgeben, gib dir Mühe!
Von Gott? Vom Teufel?
Gut, lobt Gísli. Richtig gut. Oder was sagst du dazu, Kolbeinn?
Ich bin gar nicht hier, antwortet der Kapitän kurz angebunden. Ich sehe euch nicht.
Gut, sagt Gísli
Weitere Kostenlose Bücher