Das Herz des Werwolfs (German Edition)
zusammen bei diesem Anblick, aber es brachte nichts, sie zu belügen, also nickte er langsam. Sie nickte ebenfalls und legte ihre Stirn an seinen Hals. Und brach endgültig in Tränen aus.
Reda hasste es, zu weinen. Hinterher fühlte sie sich immer nur dumm und wund geheult, nie besser. Das Einzige, was sie noch mehr hasste als Weinen, war, vor jemand anderem zu weinen.
Im Augenblick konnte sie jedoch nicht anders. Die Gefühle waren einfach zu stark und zu überwältigend und die Situation zu seltsam, als dass sie die Tränen noch hätte zurückhalten können. Sie brachen in tiefen Schluchzern aus ihr heraus, die ihr im Hals wehtaten, brannten in den Augen und erlaubten ihr nur noch, sich hilflos an den nächsten festen Halt zu klammern.
Sie weinte um die Erinnerungen, vor denen sie sich abgewandt, und um den Glauben, den sie verloren hatte. Denn wenn das hier echt war, wenn sie wirklich hier war, in einer anderen Welt, wo Magie wirkte und es Werwölfe und Vampire wirklich gab, dann lagen ihr Vater und all die anderen falsch, und ihre maman hatte recht gehabt. Sie weinte um sich selbst, aus Angst und aufgrund von all dem, was passiert war. Und sie weinte, weil sie versagen würde, weil sie nicht wusste, was zu tun war, wie sie Dayn helfen konnte oder ob es überhaupt ihre Aufgabe war. In ihrem Kopf hörte sie die geflüsterten Worte: „Für meine süße Alfreda zu ihrem achten Geburtstag. Den Rest der Geschichte erfährst Du mit sechzehn.“ Vielleicht wüsste sie, was zu tun war, wenn sie den Rest der Geschichte tatsächlich mit sechzehn erfahren hätte. So aber war sie vollkommen verloren und orientierungslos.
Das stimmte allerdings nicht ganz. Sie klammerte sich immer noch an einen festen Halt.
Dayns Probleme waren viel größer als ihre, dennoch ermahnte er sie nicht wegen ihrer Tränen oder wies siean, sich zu beeilen. Stattdessen zog er sie gegen die kräftige Wärme seines Körpers, strich ihr übers Haar und war einfach für sie da, wie es schon seit langer Zeit niemand mehr gewesen war. Und als ihre Tränen endlich versiegten und nur ein leeres Gefühl in ihr zurückließen, wartete er noch eine kleine Weile, ehe er sich langsam von ihr löste. „Es tut mir leid, dass du in die Sache hineingezogen wurdest. Wir gehen zu Candida – sie ist die Weise der Wolfyn – vielleicht weiß sie, wie man den Steinkreis wieder entsperren kann. Die Hexe kann nicht die Einzige sein, die diesen Trick kennt.“
Candida. Die Wolfyn. „Der kleine Mann hat gesagt, er wird das Rudel finden.“
„Mit einem Gnom werden sie schon fertig.“ Dayn trat einige Schritte zurück, dorthin, wo die verzweigten Wurzeln eine Art Pfad bildeten. Dann drehte er sich zu ihr um und streckte die Hand aus. „Komm mit. Gehen wir zur Weisen Wolfyn. Sie ist eine Freundin von mir. Sie wird uns helfen.“
Plötzlich brach das Verstehen über Reda herein wie eine Welle. Ihre Nerven lagen blank. Denn hier auf dem Pfad, die Hand ausgestreckt, wie farblos im fahlen Mondlicht, wurde er plötzlich zu einem der letzten Holzschnitte in ihrem Buch. Die Szene, nachdem der Förster den Wolf umgebracht und das Mädchen gerettet hatte. Er brachte sie danach zurück an den Rand des Dorfes, in dem sie lebte. Und statt von ihr fortzugehen, streckte er die Hand aus und bat sie, mit ihm zu kommen.
Im Buch war das der Anfang eines neuen Lebens. Hier war es der Moment der Wahrheit. Die Wahl, ihrem Gewissen zu folgen oder feige davonzulaufen.
Sie atmete tief durch. „Kennst du die Geschichte von ‚Rutakoppchen‘?“ Als er nickte, fuhr sie fort: „Als kleines Mädchen hatte ich eine Ausgabe davon. Meine Mutter hat gesagt, es ist die einzige auf der Welt …“ Sie erzählte ihm die Geschichte ihres Buches, von ihrem achten Geburtstag bis zu jenem Nachmittag in MacEvoys Geschäft. Ihr innerer Widerstand ließ sie um jedes Wort kämpfen. Dayn schien bereit gewesen zu sein, sie nach Hause zu schicken, und jetzt ritt sie sich selbst noch tiefer in die Geschichte hinein.
Was zum Teufel mache ich da bloß?
Als sie fertig war, räusperte Dayn sich. „Den. Göttern. Sei. Dank.“ Seine Stimme war vor Emotionen ganz rau. „Die Magie hat dich und das Buch nach all den Jahren wieder zusammengeführt, weil die Zeit gekommen ist.“ Aber dann verstummte er, und das hoffnungsvolle Leuchten, das in seinen Augen erstrahlt war, wurde wieder blasser. „Aber wenn deine Mutter dir nicht alles erzählen konnte, nicht einmal, wie sie mit meiner Welt zu tun hatte, ist es
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