Das Herz des Werwolfs (German Edition)
Kreis an ihrem Handgelenk, wo sein Mund gewesen war.
Während es geschehen war, hatte es sie nicht weiter gestört. Jetzt allerdings drehte sich ihr fast der Magen um, und sie wusste nicht genau, warum. Es hatte nicht sehr wehgetan, und die Lust war dabei viel größer gewesen als das Stechen. Sie fühlte sich jetzt außerdem nicht anders als vorher, und es hatte sie beide gerettet , verdammt. Was sollte daran falsch sein?
Erst als sie keine Antwort bekam, merkte sie, dass sie auf eine gewartet hatte. Sie wollte, dass Vernunft und Logik sich beteiligten, wollte eine rationale Antwort hören, wollte von ihnen erklärt bekommen, warum ihre menschlichen Moralvorstellungen besagten, dass es falsch war, wenn eine Person das Blut einer anderen trank, obwohl ihr unter den gegebenen Umständen keine guten Gründe dafür einfielen.
Vielleicht war das ja ihre Antwort und der Grund, warum die Stimme der Vernunft schwieg – weil sie nicht mehr in der Welt der Menschen waren, nicht einmal in der Welt der Wolfyn. Sie waren in den Königreichen, wo Magie – und Gefühle – regierten.
Das hatte sie alles schon gehört: Liebe ist chaotisch, sie tut weh, sie ist nicht logisch, man kann sie nicht vorhersagen. Aber jetzt verstand sie, warum es diese Klischees gab,und warum manche darüber verständnisvoll nickten, während andere nur leer vor sich hinstarrten.
Ihre Eltern hatten nicht zusammengepasst. Oberflächlich gesehen hatte eine versponnene Träumerin, vielleicht eine Reisende zwischen den Welten, nichts gemeinsam mit einem bodenständigen, konservativen, geradlinigen Major. Und doch hatten sie einander ausgesucht und gemeinsam vier Kinder gezeugt. Mehr noch, als ihre Mutter gestorben war, war ein Teil von ihm mit ihr gestorben – der Teil, der gewusst hatte, wie man lacht, wie man lebt und wie man sich an etwas erinnert, ohne die Gegenwart von der Vergangenheit überschatten zu lassen.
Reda hatte schon lange verstanden, dass der frühe Tod ihrer Mutter und die Veränderung ihres Vaters ihre Entwicklung entscheidend beeinflusst hatten. Was sie bisher nicht ganz begriffen hatte, war, dass sie auch aus einer Liebe entsprungen war, die so stark gewesen war, dass sie ihre Eltern trotz ihrer Unterschiede zusammengebracht hatte. Und der Verlust dieser Liebe hatte ihren Vater zu einem anderen, einem schlechteren Mann gemacht.
Es erinnerte sie an einen Spruch, den sie mal gehört hatte: Wirf dein Herz über Bord, und der Rest kommt nach. Das hatte ihr Vater getan, und er hatte es bereut. Hatte sie das in irgendeiner Weise gespürt und sich deshalb in sich zurückgezogen, statt auf ihr Herz zu hören? Weil sie Angst vor dem Schmerz hatte, den er durchmachen musste, und weil sie auch niemand anderem diesen Schmerz zufügen wollte?
Wann hatte sie sich je in eine Beziehung geworfen? Ganz zu schweigen davon, an jemanden ihr Herz zu verlieren? Vielleicht hatte sie in der Welt der Wolfyn damit angefangen, ehe Dayns Geheimnis sich zwischen sie gestellthatte. Aber selbst dort hatte sie sich nicht vollkommen gehen lassen.
Dayns Prüfung hatte wohl darin bestanden, zu beweisen, dass er an andere denken konnte, ehe er an sich selber dachte. Aber vielleicht musste sie lernen, genau das Gegenteil zu tun: auf sich selbst zu hören, statt sich darum Gedanken zu machen, was andere Menschen – oder auch die Stimmen in ihrem Kopf – von ihren Entscheidungen hielten.
„Hast du es schon herausgefunden?“
Erschrocken sah sie sich um und entdeckte, dass Dayn sie unter schweren Lidern ansah. Ihre Wangen röteten sich, ihre Haut wurde wärmer, und sie spürte plötzlich ihren eigenen Puls. „Was soll ich herausgefunden haben? Den Weg auf die Insel?“
„Was auch immer gerade diesen wilden Ausdruck auf dein Gesicht gebracht hat, als wärest du bereit, gegen die ganze Welt anzutreten. Ein Gedanke, der mir übrigens ziemliche Angst macht.“
Sie hörte, dass er wieder mehr wie er selbst klang, und sah ihn sich näher an. „Du bist geheilt!“
Er nickte, streckte sich und prüfte hier und da einen Muskel, eine Bewegung. „Ich kann es nicht erklären, aber das bisschen Blut von dir hat mir viel mehr geholfen, als ich erwartet hätte. Vielleicht hat es etwas mit deinen Vorfahren zu tun, wer auch immer sie gewesen sein mögen, oder auch mit dem Zauber, der meine Lebenskraft an die Insel bindet. Wer weiß? Aber, ob du es glaubst oder nicht, ich bin bereit weiterzuziehen.“ Er öffnete sein zerfetztes Hemd, um ihr seine Brust und seinen flachen
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