Das Herz ihrer Tochter
Haupteingang.«
»Dann machen Sie, dass Sie herkommen.
Zimmer 514.«
Ich rannte die Treppe hoch, vorbei an
Ärzten und Pflegern und MTAs und Sekretärinnen, als könnte ich durch mein Tempo
wieder wettmachen, dass ich nicht erreichbar gewesen war, als Shay mich
brauchte. Die Wachmänner an der Tür warfen nur einen Blick auf meinen
Priesterkragen - ein Passierschein, vor allem an einem Sonntagnachmittag - und
ließen mich hinein. Maggie saß auf dem Bett, barfuß, die Beine angezogen. Sie
hielt Shays Hand, obwohl ich in dem Patienten kaum den Mann wiedererkannte, mit
dem ich gestern noch gesprochen hatte. Seine Haut war aschfahl, eine Stelle am
Haaransatz war geschoren worden, weil er dort genäht werden musste. Seine Nase
- offenbar gebrochen - war bandagiert, und in den Nasenlöchern steckte Watte.
»Großer Gott«, flüsterte ich.
»Wenn ich das richtig verstanden habe,
ist ein Häftling auf ihn losgegangen«, sagte Maggie.
»Das kann nicht sein. Der Häftling hat
einen Aufseher angegriffen. Ich war dabei.«
»Anscheinend sind Sie vor dem zweiten Akt
gegangen.«
Ich warf dem Wachmann in der Ecke einen
Blick zu. Der Mann sah mich an und nickte bestätigend.
»Ich hab Direktor Coyne bereits zu Hause
angerufen und ihm die Hölle heißgemacht«, sagte Maggie. »Ich treffe mich in
einer halben Stunde im Gefängnis mit ihm, um darüber zu reden, mit welchen
zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen Shay bis zu seiner Hinrichtung geschützt
werden kann. Aber im Grunde interessiert ihn nur eines: >Was kann ich tun,
damit Sie keine Klage einreichen?< Sie sah mich an. »Können Sie bei Shay
bleiben?«
Es war Sonntag, und ich wusste absolut
nicht weiter. Ich war inoffiziell beurlaubt, und obwohl ich immer gewusst
hatte, dass ich mich ohne Gott haltlos und verlassen fühlen würde, hatte ich
unterschätzt, wie ziellos ich mir ohne meine Kirche vorkommen würde. Um die
Zeit würde ich normalerweise mein Gewand nach der Messe in den Schrank hängen.
Dann würde ich mit Father Walter bei einem Gemeindemitglied zu Mittag essen.
Dann würden wir zu ihm nach Hause fahren, uns ein Spiel der Red Sox im
Fernsehen angucken und dabei ein paar Bier trinken. Religion war für mich mehr
als nur Glaube - sie machte mich auch zum Teil einer Gemeinschaft.
»Ich kann bleiben«, antwortete ich.
»Dann verschwinde ich jetzt«, sagte
Maggie. »Er ist noch nicht wach geworden, jedenfalls nicht richtig. Und die
Krankenschwester meint, wenn er aufwacht, muss er wahrscheinlich pinkeln, und
dann sollten wir ihm mit diesem Foltergerät da behilflich sein.« Sie zeigte auf
einen Plastikbehälter mit einem langen Hals. »Ich weiß ja nicht, wie Sie das
sehen, aber für so was werd ich nicht gut genug bezahlt.« Sie blieb an der Tür
stehen. »Ich ruf Sie später an. Gehen Sie bloß ans Telefon.«
Als sie fort war, rückte ich einen Stuhl
an Shays Bett. Ich las die Plastikkarte mit der Gebrauchsanweisung für das
Heben und Senken des Betts und die Liste mit den verfügbaren Fernsehsendern.
Ich betete einen ganzen Rosenkranz, und noch immer rührte Shay sich nicht.
Vorn am Bett hing Shays Krankenblatt an
einem Klemmbrett. Ich überflog es, verstand aber nur die Hälfte - Verletzungen,
Medikamente, Meßwerte. Dann fiel mein Blick auf den Patientennamen oben auf
dem Blatt.
I. M.
Bourne.
Isaiah
Matthew Bourne. Der vollständige Name
war in seinem Prozess genannt worden, aber ich hatte vergessen, dass Shay nicht
sein richtiger Vorname war. »I. M. Bourne«, sagte ich laut. »I am born.«
Ich bin geboren.
War das ein Fingerzeig, ein weiteres
bedeutendes Puzzleteilchen?
Jede Situation ließ sich auf zweierlei
Weise betrachten. Was der eine als Häftlingsgeschwätz deutet, sind für den
anderen vielleicht Worte aus einem lange Zeit verschollenen Evangelium. Was
für den einen ein medizinisch erklärbarer Glücksfall ist, sieht der andere
möglicherweise als Wiederauferstehung. Ich dachte an Lucius' Heilung, an die
Verwandlung von Wasser in Wein, an Shays Anhänger, die so ohne Weiteres an ihn
glaubten. Ich dachte an einen dreiunddreißig Jahre alten Zimmermann, der kurz
vor seiner Hinrichtung stand. Ich dachte an Rabbi Blooms Vorstellung - dass in
jeder Generation ein Mensch geboren wurde, der das Zeug zum Messias hatte.
Wenn man am Rande des Abgrunds steht, der
sich jenseits von greifbaren, logischen Beweisen auftut, sollte man den Blick
auf die andere Seite richten und weitergehen. Sonst geht man am Ende
nirgendwohin. Ich blickte Shay an, und
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