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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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vielleicht zum ersten Mal sah ich
nicht, wer er war, sondern wer er sein könnte.
    Als könnte er meinen Blick spüren, wurde
er unruhig. Seine Augen öffneten sich einen kleinen Spalt. »Father«, röchelte
er, und seine Stimme klang dumpf von den Medikamenten. »Wo bin ich?«
    »Im Krankenhaus. Sie werden wieder
gesund, Shay.«
    Der Aufseher in der Ecke des Raumes
beobachtete uns. »Könnten Sie uns wohl kurz allein lassen? Ich würde gern
allein mit ihm beten.«
    Der Aufseher zögerte -
verständlicherweise: Welcher Geistliche ist es nicht gewohnt, im Beisein von
anderen zu beten? Dann zuckte er die Achseln. »Ein Priester wird wohl keine
Dummheiten machen«, sagte er. »Ihr Boss ist strenger als meiner.«
    Gott wurde ständig vermenschlicht - als
Boss, als Lebensretter, als Richter, als Vater. Aber niemand stellte ihn sich
je als verurteilten Mörder vor. Aber wenn man mal von der Körperlichkeit absah
- etwas, was alle Apostel nach Jesu Auferstehung tun mussten -, dann war alles
möglich.
    Kaum hatte der Aufseher den Raum
verlassen, zog Shay eine Grimasse. »Mein Gesicht...« Er wollte eine Hand heben,
um die Verbände zu berühren, wurde aber von den Handschellen gebremst.
Verzweifelt zog er fester.
    »Shay«, sagte ich mit Nachdruck, »nicht.«
    »Es tut weh. Ich will Schmerzmittel...«
    »Sie stehen schon unter Schmerzmitteln«,
sagte ich. »Wir haben nur ein paar Minuten, bis der Aufseher wieder reinkommt,
also lassen Sie uns die Zeit zum Reden nutzen.«
    »Ich will nicht reden.«
    Ich beugte mich näher zu ihm. »Sagen Sie
es mir«, flüsterte ich. »Sagen Sie mir, wer Sie sind.«
    Eine vorsichtige Hoffnung erhellte Shays
Augen. Er wurde ganz still, blickte mir unverwandt in die Augen. »Sagen Sie
mir, wer Sie sind.«
    In der katholischen Kirche gab es zwei
Arten von Lügen, die direkte, bei der man mit Absicht etwas Falsches sagte, und
die indirekte, bei der man bewußt etwas nicht sagte. Beides waren Lügen.
    Ich hatte Shay bereits belogen, als wir
uns noch gar nicht kannten. Er hatte darauf gebaut, dass ich ihm helfen würde,
sein Herz zu spenden, aber er hatte nicht geahnt, wie schwarz meines war. Wie
konnte ich erwarten, dass er sich mir offenbarte, wenn ich es selbst nicht
getan hatte?
    »Sie haben recht«, sagte ich leise. »Es
stimmt, ich hab Ihnen etwas verschwiegen ... was ich mal war, ehe ich Priester
wurde.«
    »Lassen Sie mich raten ... Meßdiener.«
    »Ich war Student, Mathematikstudent. Ich
ging nicht mal mehr zur Kirche, als ich für die Jury ausgewählt wurde.“
    »Was für eine Jury?«
    Ich zögerte. »Die, die
Sie zum Tode verurteilt hat, Shay.« Er starrte mich einen langen Augenblick an,
und dann drehte er sich weg. »Raus hier.“
    »Shay -«
    »Machen Sie, dass Sie wegkommen!« Er zerrte an den Handschellen, so heftig, dass sie ihm die Haut
aufscheuerten. Der Laut,
der ihm entfuhr, war wortlos, urzeitlich, gewiß das Geräusch, das die Welt
erfüllte, ehe Ordnung und Licht ward.
    Eine Krankenschwester kam hereingehastet,
gefolgt von den zwei Aufsehern, die draußen postiert waren. »Was ist
passiert?«, rief die Schwester, als Shay weiter wild an den Handschellen riss
und den Kopf hin und her warf. Durch den Verband auf seiner Nase sickerte
frisches Blut.
    Die Schwester drückte den Rufknopf hinter
Shays Kopf, und gleich darauf wimmelte es im Zimmer von Menschen. Ein Arzt
schrie die Aufseher an, sie sollten ihm die Handschellen abmachen, doch kaum
war das geschehen, schlug Shay auf alles ein, was er erreichen konnte. Ein
Pfleger drückte ihm eine Spritze in den Arm. »Schafft ihn raus«, sagte jemand,
und sogleich packten mich kräftige Hände und bugsierten mich aus dem Raum. Das
Letzte, was ich sah, war, wie Shay erschlaffte, den Leuten entglitt, die
verzweifelt versuchten, ihn zu retten.
     
    JUNE
     
    Ciaire stand nackt vor dem großen
Spiegel. Ihre Brust war kreuz und quer mit schwarzem Band umwickelt, wie die
Nähte an einem Football. Vor meinen Augen löste sie die Schleife, wickelte das
Band ab und öffnete ihre Brust in der Mitte. Sie löste einen winzigen
Messingverschluss zwischen den Rippen, die sogleich aufklappten.
    In ihrem Brustkorb schlug das Herz zuverlässig
und kräftig, ein deutliches Zeichen, dass es nicht ihres war. Ciaire nahm
einen Servierlöffel und fing an, das Organ damit von den Venen und Arterien zu
trennen. Ihre Wangen wurden blass; ihre Augen blickten wie im Todeskampf -,
aber sie schaffte es, das Herz herauszuziehen: eine blutige, unförmige

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