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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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schwer verletzt sein. Häftlinge wurden
nur im äußersten Notfall in ein öffentliches Krankenhaus gebracht, aus Kosten-
und Sicherheitsgründen. Bei dem ganzen Rummel, den Shay vor den Gefängnismauern
ausgelöst hatte, musste es hier um Leben und Tod gehen.
    Andererseits ging es bei Shay ja nur noch
um Leben und Tod. Und nun zitterte ich förmlich darum, dass er nicht schwer verletzt
war, wo ich gestern noch Anträge aufgesetzt hatte, die seine Hinrichtung
beschleunigen würden.
    Die Stationsschwester sah mich an. »Er
ist eben erst aus dem OP zurück.«
    »OP!?«
    »Ja«, sagte eine unüberhörbar britische
Stimme hinter mir. »Und nein, es war nicht der Blinddarm.«
    Als ich mich umdrehte, stand Dr.
Gallagher vor mir.
    »Sind Sie der einzige Arzt, der hier
arbeitet?«
    »So kommt es mir manchmal jedenfalls vor.
Ich beantworte gern Ihre Fragen. Mr Bourne ist mein Patient.«
    »Er ist mein Mandant.«
    Dr. Gallagher warf einen Blick auf die
Stationsschwester und die bewaffneten Wachmänner. »Kommen Sie, wir unterhalten
uns woanders.«
    Ich folgte ihm den Gang hinunter in ein
kleines Wartezimmer, das leer war. Als der Arzt mir bedeutete, Platz zu nehmen,
stockte mir das Herz. Ärzte boten einem nur dann einen Platz an, wenn sie
schlechte Nachrichten hatten.
    »Mr Bourne wird wieder gesund«, sagte Dr.
Gallagher. »Zumindest was seine Verletzung betrifft.«
    »Was für eine Verletzung?«
    »Tut mir leid, ich dachte, Sie wüßten
Bescheid - er wurde offenbar von einem Mithäftling angegriffen. Mr Bourne hat
einen heftigen Schlag auf den Sinus maxillaris erhalten.«
    Ich wartete auf die Übersetzung.
    »Sein Oberkiefer ist gebrochen«, sagte
Dr. Gallagher, beugte sich dann vor und berührte mein Gesicht. Seine Finger
fuhren sanft über den Knochen unterhalb meiner Augenhöhle und weiter zu meinem
Mund. »An der Stelle«, sagte er, und mein Atem setzte eindeutig,
hundertprozentig aus. »Während der Operation kam es zu einem kleinen Schock für
ihn. Als wir die Schwere der Verletzung festgestellt hatten, entschieden wir
uns für eine intravenöse Narkose statt einer Inhalationsnarkose. Als Mr Bourne
die Anästhesistin sagen hörte, sie habe mit der Natriumpentothalinfusion
begonnen, reagierte er verständlicherweise sehr aufgewühlt.« Der Arzt blickte
mich an. »Er wollte wissen, ob das die Generalprobe für den großen Tag sei.«
    Ich versuchte, mich in Shay
hineinzuversetzen - verletzt, mit Schmerzen und verwirrt, im Eiltempo in eine
fremde Umgebung verfrachtet, um dort eine Art Vorspiel zu seiner eigenen
Hinrichtung zu erleben. »Ich will zu ihm.«
    »Ms Bloom, sagen Sie ihm doch bitte, wenn
mir klar gewesen wäre - ich meine, wer er ist und so weiter -, dann hätte ich
dieses Narkosemittel niemals zugelassen und erst recht nicht die Infusion. Es
tut mir aufrichtig leid, dass ich ihm das zugemutet habe.«
    Ich nickte und stand auf.
    »Noch etwas«, sagte Dr. Gallagher. »Ich
finde Ihren Einsatz ehrlich bewundernswert.«
    Ich war auf halbem Wege zu Shays Zimmer,
als mir klar wurde, dass Dr. Gallagher meinen Namen behalten hatte.
     
    Es kostete etliche Handytelefonate mit
der Gefängnisverwaltung, ehe ich zu Shay durfte, und auch nur unter der
Bedingung, dass der im Zimmer postierte Wachmann blieb, wo er war. Ich ging
hinein, nickte dem Aufseher zu und setzte mich auf die Kante von Shays Bett. Er
hatte Blutergüsse um die Augen, und sein Gesicht war bandagiert. Er schlief,
was ihn jünger aussehen ließ.
    Meine Aufgabe als Anwältin war es, die
Interessen meiner Mandanten zu verfechten. Ich war der starke Arm, ich kämpfte
für sie, ich war das Megafon ihrer Stimmen. Ich konnte das zornige Unbehagen
des Abenaki-Jungen förmlich spüren, dessen Schulmannschaft sich die Redskins -
Rothäute - nannte; ich konnte die Empörung der Lehrerin nachempfinden, die
entlassen worden war, weil sie erklärte Wicca-Anhängerin war. Shay dagegen
hatte mich aus der Bahn geworfen. Obgleich dieser Fall mit Sicherheit der
wichtigste war, mit dem ich je vor Gericht ziehen würde, und mich noch dazu -
wie mein Vater bemerkt hatte - stärker motivierte, als es irgendeiner in meiner
Laufbahn bisher vermocht hatte, barg er einen inneren Widerspruch. Je besser
ich Shay kennenlernte, desto mehr erhöhten sich meine Chancen, seinen Antrag
auf Organspende zu gewinnen. Doch je besser ich ihn kennenlernte, desto
schwerer würde es mir fallen, seine Hinrichtung zu erleben.
    Ich kramte mein Handy aus der Handtasche.
Die Augen des Wachmannes

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