Das Herz ihrer Tochter
Masse,
die sie mir auf die ausgestreckte Hand legte. »Nimm es zurück«, sagte sie.
Ich wachte aus dem Albtraum auf,
schweißgebadet, mit rasendem Puls. Nach meinem Gespräch mit Dr. Wu über Organverträglichkeit
hatte ich begriffen, dass er recht hatte - was zählte, war nicht, woher das
Herz kam, sondern ob überhaupt eines kam.
Aber ich hatte Ciaire noch immer nicht
erzählt, dass ein Spenderherz zur Verfügung stand. Wir mussten ohnehin noch
das ganze juristische Prozedere abwarten - und obwohl ich mir einredete,
lediglich verhindern zu wollen, dass sie sich allzu große Hoffnungen machte,
solange die Gerichtsentscheidung noch ausstand, wusste ich im Grunde, dass ich
ihr einfach nicht die Wahrheit sagen wollte.
Schließlich war es ihre Brust, die das
Herz dieses Mannes aufnehmen würde.
Auch eine lange Dusche half mir nicht,
den Albtraum abzuschütteln, und schließlich wurde mir klar, dass wir das
Gespräch jetzt führen mussten, dem ich bislang aus dem Weg gegangen war. Ich
zog mich an und eilte nach unten, wo sie mit einer Schüssel Cornflakes auf der
Couch saß und Fernsehen guckte. »Der Hund muss Gassi«, sagte sie
geistesabwesend.
»Ciaire«, sagte ich. »Ich muss mit dir
reden.«
»Ist gleich zu Ende.«
Ich warf einen Blick auf den Bildschirm -
es lief Füll FFouse, und ich wusste, dass Ciaire diese Folge schon zigmal gesehen hatte.
»Das kennst du doch alles schon«, sagte
ich und schaltete den Fernseher aus.
Sie blickte mich wütend an, nahm die
Fernbedienung und machte den Apparat wieder an.
Vielleicht lag es bloß am Schlafmangel,
vielleicht lag es an der Anspannung vor unserem Gespräch - jedenfalls verlor
ich die Nerven. Ich fuhr herum und riss das Antennenkabel aus der Wand.
»Hast du sie noch
alle?«, schrie Ciaire. »Du blöde Kuh!« Wir erstarrten beide, schockiert von
Claires Wortwahl. Noch nie hatte sie so mit mir geredet; sie hatte sich bisher
nicht mal richtig mit mir gestritten. Nimm
das zurück, dachte ich, und dann hatte ich
plötzlich wieder das Bild vor Augen, wie Ciaire mir ihr Herz hinhielt.
»Ciaire«, sagte ich ruhiger. »Es tut mir
leid. Ich wollte nicht -« Ich stockte, als Claires Augen in ihren Höhlen nach
hinten rollten.
Ich hatte das schon oft gesehen - zu oft.
Der AICD in ihrer Brust war losgegangen: Wenn Claires Herz einen Schlag ausließ
oder mehrere, wurde sie automatisch defibrilliert. Ich fing sie auf, als sie
zusammenklappte, legte sie auf die Couch und wartete, dass ihr Herz wieder
einsetzte, dass Ciaire wieder zu sich kam.
Aber diesmal passierte nichts.
Auf der Fahrt im Rettungswagen ins
Krankenhaus wusste ich genau, weshalb ich mich hasste: weil ich einen Streit
mit Ciaire provoziert hatte. Weil ich Shay Bournes Angebot, sein Herz zu
spenden, angenommen hatte, ohne Ciaire vorher zu fragen. Weil ich Füll House vor
dem Happy End abgeschaltet hatte.
Bitte bleib bei mir, flehte ich lautlos, dann
kannst du rund um die Uhr fernsehen. Ich werde mit dir zusammen gucken. Gib
nicht auf, wir sind doch so nah dran.
Obwohl die Sanitäter Claires Herz wieder
in Gang gebracht hatten, als wir in der Notaufnahme ankamen, wies Dr. Wu sie
trotzdem ein, in dem unausgesprochenen Einvernehmen, dass das Krankenhaus ihr
neues Zuhause sein würde, bis das neue Herz da war - oder ihres endgültig
versagte. Ciaire schlief tief und fest, während er sie in dem ozeanblauen Licht
des abgedunkelten Raumes untersuchte und ich ihn dabei beobachtete. »June«,
sagte er, »reden wir draußen.«
Er schloss die Tür hinter uns. »Ich habe
keine gute Nachricht.«
Ich nickte, biß mir auf die Lippe.
»Der AICD funktioniert anscheinend nicht
richtig. Aber das ist nicht alles. Die Tests, die wir gemacht haben, zeigen
einen verminderten Urinausstoß und einen erhöhten Kreatininwert. Es droht
Nierenversagen, June. Nicht bloß ihr Herz ist am Ende, ihr ganzer Körper stellt
die Funktionen ein.«
Ich blickte weg, konnte aber nicht
verhindern, dass mir eine Träne über die Wange rann.
»Ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis
ein Gericht diese Herzspende bewilligt«, sagte der Arzt, »aber Ciaire läuft die
Zeit davon.«
»Ich rufe die Anwältin an«, sagte ich.
»Kann ich sonst noch was tun?«
Dr. Wu berührte meinen Arm. »Sie sollten
sich darauf vorbereiten, Abschied zu nehmen.«
Ich beherrschte mich so lange, bis Dr. Wu
im Aufzug verschwunden war. Dann rannte ich den Korridor hinunter und stürzte
blindlings durch eine Tür, die angelehnt war. Ich sank auf die Knie und
Weitere Kostenlose Bücher