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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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ließ
die Trauer aus mir heraus - in einem langen, tiefen Klagelaut.
    Plötzlich spürte ich eine Hand auf der
Schulter. Ich blinzelte durch meine Tränen und sah, dass der Priester, der Shay
Bourne zur Seite stand, mich anstarrte. »June? Ist alles in Ordnung?«
    »Nein«, sagte ich. »Nein, es ist nicht
alles in Ordnung, absolut nicht.«
    Dann sah ich, was ich in meiner
Verzweiflung beim Betreten des Raumes völlig übersehen hatte - das goldene
Kreuz auf der langen Empore vorne im Raum, eine Fahne mit dem Davidstern, eine
weitere mit einem muslimischen Halbmond: Ich war in der Krankenhauskapelle,
einem Ort, an dem man um etwas bitten konnte, das man sich am meisten wünschte.
    War es falsch, sich den Tod eines
Menschen zu wünschen, damit Ciaire sein Herz früher haben konnte?
    »Ihre Tochter?«, fragte der Priester.
    Ich nickte, aber ich
konnte ihm nicht in die Augen sehen. »Darf ich - ich meine, wäre es Ihnen
recht, wenn ich für sie bete?«
    Obgleich ich seine Hilfe nicht wollte -
nicht darum gebeten hatte -, war ich diesmal bereit, meine Ansichten über Gott
beiseitezuschieben, weil Ciaire jede Unterstützung brauchen konnte, egal, von
wem. Fast unmerklich nickte ich.
    Neben mir erhob Father Michael seine
Stimme. »Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name. Dein
Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.«
    Ehe ich wusste, was ich da tat, hatte
mein Mund begonnen, die Worte zu formen. Und zu meiner Verblüffung kam es mir
weder falsch noch aufgesetzt vor, nein, ich war erleichtert, als hätte ich
soeben die Verantwortung an jemand anderen abgegeben.
    »Unser täglich Brot gib uns heute. Und
vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe
uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.«
    Es war ein Gefühl, als würde ich in einer
verschneiten Nacht meinen Flanellpyjama anziehen.
    Ich sah Father Michael an, und gemeinsam
sagten wir: »Amen.«
     
    MICHAEL
     
    Ian Fletcher, ehemaliger Fernsehatheist
und nun Privatgelehrter, lebte in New Canaan, New Hampshire, in einem Farmhaus
an einer Landstraße, an der die Briefkästen nicht numeriert waren. Ich fuhr die
Straße viermal auf und ab, ehe ich fündig wurde und in eine Einfahrt bog und
an die Tür klopfte. Es machte niemand auf, obwohl ich durch die offenen Fenster
Mozartklänge hören konnte.
    Ich war gleich nach meiner Begegnung mit
June in der Krankenhauskapelle losgefahren, noch ganz mitgenommen von Shays
Reaktion auf mein Geständnis. Ironie des Schicksals: Gerade als ich mir selbst
den Gedanken erlaubte, ich könnte vielleicht doch in Gottes Gesellschaft sein,
wies er mich schlankweg ab. Meine ganze Welt war aus dem Lot geraten. Und daher
hatte ich jemanden angerufen, der das selbst schon durchgemacht hatte.
    Ich klopfte erneut, und diesmal gab die
Tür unter meiner Hand nach. »Hallo? Jemand zu Hause?«
    »Ich bin hier«, rief eine Frau.
    Ich betrat die Diele, registrierte die
antiken Möbel, das Foto an der Wand, auf dem ein kleines Mädchen Bill Clinton
die Hand schüttelte, und ein anderes von demselben Mädchen, wie es lächelnd
neben dem Dalai-Lama stand. Ich folgte der Musik durch die Küche in einen Raum,
wo das aufwendigste Puppenhaus, das ich je gesehen hatte, auf einem Tisch
stand, umgeben von Holzspänen und Meißeln und Patronen für Klebepistolen. Das
Haus bestand aus Backsteinen von der Größe meines Daumennagels, die Fenster
hatten Minijalousien, die sich schräg stellen ließen, und es gab eine Veranda
mit korinthischen Säulen. »Donnerwetter«, murmelte ich, und plötzlich tauchte
eine Frau hinter dem Puppenhaus auf, von dem sie verdeckt gewesen war.
    »Oh«, sagte sie. »Danke.« Als sie mich
ansah, stutzte sie, und dann merkte ich, dass ihre Augen auf meinen
Priesterkragen gerichtet waren.
    »Kommen bei Ihnen schlechte Erinnerungen
an die katholische Schule hoch?«
    »Nein ... es ist bloß ein Weilchen her,
seit zuletzt ein Priester bei uns war.« Sie wischte sich die Hände an einer
weißen Schürze ab. »Ich bin Mariah Fletcher«, sagte sie.
    »Michael
Wright.«
    »Father Michael
Wright.«
    Ich grinste. »Erwischt.« Dann deutete ich
auf das Kunstwerk. »Haben Sie das gebaut?“
    »Ah, ja.«
    »So was hab ich wirklich noch nie
gesehen.«
    »Gut«, sagte Mariah. »Genau das erwartet
die Kundin auch.«
    Ich bückte mich, bestaunte einen winzigen
Türklopfer in Form eines Löwenkopfes. »Sie sind eine richtige Künstlerin.«
    »Eigentlich nicht. Ich

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