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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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gerade die Hauptleserschaft meines Buches aus.«
    Ich nahm in einem Ledersessel Platz. »Kann
ich mir vorstellen.«
    »Also, was führt einen freundlichen
Priester wie Sie denn nun in das Büro eines Aufwieglers wie mich? Kann ich mich
auf einen beißenden Kommentar im Catholic
Advocate mit Ihrem Namen darunter
gefasst machen?«
    »Nein... mein Besuch dient eher
Recherchezwecken.« Ich überlegte, wie offen ich gegenüber Ian Fletcher sein
sollte. Als Priester unterlag ich ebenso der Schweigepflicht wie ein Arzt, aber
würde ich dagegen verstoßen, wenn ich Fletcher erzählte, was Shay gesagt hatte,
wo die gleichen Worte doch bereits in einem zweitausend Jahre alten Evangelium
standen? »Sie waren mal Atheist«, sagte ich, um das Thema zu wechseln.
    »Ja.« Fletcher lächelte. »Und noch dazu
ein ziemlich begabter, wenn ich das sagen darf.«
    »Was ist passiert?«
    »Ich habe jemanden kennengelernt und
durch diese Begegnung alles infrage gestellt, was ich sicher über Gott zu
wissen glaubte.«
    »Genau das«, sagte ich, »führt mich in
das Büro eines Aufwieglers wie Sie.«
    »Und wo sonst könnten Sie mehr über die
gnostischen Evangelien erfahren?«, sagte Fletcher.
    »Richtig.«
    »Nun denn, als Erstes müssen Sie wissen,
dass Sie sie nicht so nennen sollten. Die Bezeichnung gnostisch stammt nämlich
von denselben Leuten, die sie ablehnten. In meinen Kreisen nennen wir sie
nichtkanonische Evangelien. Gnostiker bedeutet eigentlich einer, der weiß -
doch die Leute, die den Begriff geprägt haben, hielten die Anhänger der Gnosis
für Alleswisser.«
    »So ähnlich lernen wir das auch im
Seminar.«
    Fletcher sah mich an. »Lassen Sie mich
Ihnen eine Frage stellen, Father Michael - was ist Ihrer Ansicht nach Sinn und
Zweck von Religion?«
    Ich lachte. »Wow, Gott sei Dank fragen
Sie mich was Leichtes.«
    »Im Ernst...«
    Ich überlegte. »Ich denke, Religion
bringt Menschen mit gemeinsamen Glaubensvorstellungen zusammen ... und hilft
ihnen zu verstehen, warum sie wichtig sind.«
    Fletcher nickte, als hätte er genau die
Antwort erwartet. »Ich glaube, Religion soll die wirklich schweren Fragen
beantworten, die sich stellen, wenn die Welt nicht mehr so funktioniert, wie
sie sollte - zum Beispiel wenn dein Kind an Leukämie stirbt oder wenn du nach
zwanzig Jahren harter Arbeit entlassen wirst. Wenn guten Menschen Schlechtes
passiert und schlechten Menschen Gutes. Wirklich interessant finde ich, dass
es bei Religion irgendwann nicht mehr um den Versuch ging, ehrliche Antworten
zu suchen... sondern nur noch um Rituale. Anstatt die selbstständige Suche nach
Erkenntnis zuzulassen, sagte die orthodoxe Religion auf einmal: >Tut dies
und das - und die Welt wird besser.<«
    »Na ja, aber den Katholizismus gibt es
seit Tausenden von Jahren«, erwiderte ich, »da muss er doch irgendwas richtig
machen.«
    »Sie müssen zugeben, er hat auch viel
falsch gemacht«, sagte Fletcher.
    Jeder halbwegs gebildete Mensch wusste um
die politische und historische Rolle der katholischen Kirche - von den
ketzerischen Lehren, die über die Jahrhunderte unterdrückt worden waren, ganz
zu schweigen. Schon in der sechsten Klasse wurde die Inquisition behandelt.
»Die Kirche ist ein großes Unternehmen«, sagte ich. »Und klar, es gibt immer
wieder Zeiten, zu denen das Personal zu wünschen übrig läßt, weil Leute dabei
sind, die Ehrgeiz für wichtiger halten als den Glauben. Aber deshalb schüttet
man das Kind nicht gleich mit dem Bade aus. Egal, was Gottes Diener in der
Kirche für Versager sind, seine Botschaft hat dennoch Bestand.«
    Fletcher legte den Kopf schief. »Was
wissen Sie über die Geburt des Christentums?«
    »Soll ich mit der Heimsuchung Maria
anfangen oder gleich zu dem Stern im Morgenland kommen ...«
    »Da geht's um die Geburt Jesu«, sagte Fletcher. »Zwei
ganz verschiedene Dinge. Historisch betrachtet, wurden die Anhänger Jesu nach
dessen Tod nicht unbedingt mit offenen Armen empfangen. Bereits im zweiten
Jahrhundert nach Christi starben sie für ihren Glauben. Doch obwohl sie Gruppen
angehörten, die sich Christen nannten, waren die Gruppen nicht einheitlich, sondern
sehr verschieden voneinander. Eine dieser Gruppen waren die sogenannten
Gnostiker. Für sie war Christsein ein guter erster Schritt, aber um die Erleuchtung
zu erlangen, musste man Geheimwissen erhalten, Gnosis. Der Anfang war der
Glaube, das Ziel die Erkenntnis - und dafür boten die Gnostiker eine zweite
Taufe an. Ptolemäus nannte sie apolytrosis - dasselbe

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