Das Herz ihrer Tochter
erzählt
hatte. Andererseits hatte ich es ja nicht gewusst. »Gibt es einen Grund, warum
Sie erst jetzt damit rausrücken?«
»Keine Fragen, keine Geständnisse«,
zitierte er meine eigenen Worte. »Zunächst dachte ich, ich helfe Shay erst mal
zu verstehen, was Erlösung wirklich bedeutet, und sage Ihnen dann die
Wahrheit. Aber dann hat Shay mir beigebracht, was Erlösung heißt, und Sie sagten, meine Aussage sei
wichtig, und ich dachte, es ist vielleicht besser, Sie wissen es nicht. Ich
dachte, es würde nicht gleich den Prozess versauen ...«
Ich hob eine Hand, um ihn zum Schweigen
zu bringen. »Befürworten Sie sie?«, fragte ich. »Die Todesstrafe?«
Der Priester zögerte, ehe er sprach.
»Früher ja.«
Ich würde Greenleaf informieren müssen.
Doch selbst wenn Father Michaels Aussage aus dem Protokoll gestrichen wurde,
der Richter konnte nicht so tun, als hätte er sie nicht gehört; der Schaden war
angerichtet. Im Augenblick hatte ich jedoch Wichtigeres zu tun. »Ich muss
los.«
Als ich zur Gerichtszelle kam, war Shay
noch immer völlig verstört und hatte die Augen fest verschlossen. »Shay?«,
sagte ich. »Bitte schauen Sie mich an.«
»Ich kann nicht«, rief er. »Drehen Sie
die Lautstärke runter.«
In den Raum war kein einziges Geräusch zu
hören. Ich warf dem Marshai einen Blick zu, und er zuckte mit den Achseln.
»Shay«, sagte ich im Befehlston, während ich auf das Gitter der Zelle
zuschritt. »Machen Sie, verdammt noch mal, die Augen auf.«
Ein Auge öffnete sich einen winzigen
Spalt weit, dann das andere.
»Sagen Sie mir, wie Sie das gemacht
haben.“
»Was?«
»Ihren kleinen Zaubertrick im Saal.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich hab nichts
gemacht.«
»Sie sind aus den Handschellen
rausgekommen«, sagte ich. »Wie haben Sie das angestellt, haben Sie sich einen
Schlüssel gebastelt und ihn irgendwo in der Kleidung versteckt?«
»Ich habe keinen Schlüssel. Ich hab sie
nicht aufgeschlossen.«
Na, genau genommen stimmte das. Die
Handschellen waren noch verschlossen gewesen, als sie zu Boden fielen. Klar,
Shay hätte die Schlösser knacken und rasch wieder zuschnappen lassen können -
aber das hätte ein Geräusch gemacht, das wir alle gehört hätten.
Aber wir hatten nichts gehört.
»Ich hab nichts gemacht«, wiederholte
Shay.
Ich hatte mal irgendwo von
Zauberkünstlern gelesen, die ihre Schultern auskugeln konnten, um sich aus
einer Zwangsjacke zu befreien; vielleicht war das ja Shays Trick. Vielleicht
hatte er Gummigelenke in den Daumen oder konnte die Fingerknochen verschieben
und sich aus den Metallhalterungen winden, ohne dass es jemand merkte. »Na
schön.« Ich atmete schwer aus. »Hören Sie, Shay. Ich weiß nicht, ob Sie ein
Zauberkünstler sind oder ein Messias. Ich verstehe nicht besonders viel von
Erlösung oder Wundern oder dem ganzen anderen Kram, wovon Father Michael und
Ian Fletcher gesprochen haben. Ich weiß nicht mal, ob ich an Gott glaube. Aber
eines weiß ich, nämlich dass ich mich mit dem Gesetz auskenne. Und im
Augenblick glaubt jeder in diesem Gerichtssaal, dass Sie komplett gestört sind.
Sie müssen sich zusammenreißen.« Auf einmal blickte Shay mich völlig konzentriert
an, mit klaren und scharfen Augen. »Sie haben nur eine Chance«, sagte ich
langsam, »eine einzige Chance, mit dem Mann zu sprechen, der darüber
entscheidet, wie Sie sterben werden und ob Ciaire Nealon leben wird. Also, was
werden Sie zu ihm sagen?«
Als ich Shay wieder in den Zeugenstand
treten sah, saßen die Zuschauer ehrfürchtig da, warteten auf einen weiteren Ausbruch,
aber Shay verhielt sich ruhig und brav, fast schon übertrieben still. Er war
dreifach gefesselt und musste förmlich zum Zeugenstand trippeln, wo er
niemanden ansah und einfach wartete, dass ich ihm die Frage stellte, die wir
einstudiert hatten. Ich hatte ihn so umgemodelt, dass er dem Bild eines
funktionsfähigen Klägers entsprach, und ich fragte mich, ob das mehr darüber
aussagte, wer er zu sein bereit war oder wer ich geworden war.
»Shay«, sagte ich. »Was möchten Sie
diesem Gericht sagen?«
Er blickte zur Decke hoch, als würde er
darauf warten, dass die Worte herunterrieselten wie Schnee. »Der Geist des
Herrn ist auf mir, denn er hat mich gesalbt, frohe Botschaft zu verkünden«,
murmelte er.
»Amen«, sagte eine Frau auf den
Zuschauerbänken.
Das hatte ich, ehrlich gesagt, nicht
gemeint, als ich Shay sagte, er könne einen letzten Versuch unternehmen, den
Richter doch noch zu überzeugen. Für
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