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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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keine
Prügel bezog von einem der anderen Kinder oder von meinem Pflegevater. Der hat
mit einer Metallhaarbürste dafür gesorgt, dass keiner von uns aus der Reihe
getanzt ist. Das geht nämlich nicht mehr, wenn du dich kaum noch bewegen kannst
vor Rückenschmerzen. Das ganze Pflegesystem in diesem Land ist ein Witz; Unpüege wäre ein passenderer
Ausdruck. Den Pflegeeltern geht es doch bloß ums Geld, das sie -«
    »Shay!« Ich sah ihn warnend an. »Glauben
Sie an Gott?«
    Diese Frage schien ihn irgendwie zu
beruhigen. »Ich kenne Gott«, sagte Shay.
    »Wie meinen Sie das.«
    »Jeder hat ein bisschen Gott in sich ...
und auch ein bisschen Mord. Je nachdem, wie dein Leben verläuft, neigst du dich
zu der einen oder der anderen Seite.«
    »Wie ist Gott?«
    »Mathematik«, sagte Shay. »Eine
Gleichung. Bloß wenn du alles ausrechnest, kommt Unendlichkeit raus statt
null.“
    »Und wo lebt Gott, Shay?«
    Er beugte sich vor, hob mit klirrendem
Metall die gefesselten Hände und zeigte auf sein Herz. »Da.«
    »Sie sagten, Sie seien als Kind zur
Kirche gegangen. Ist der Gott, an den Sie heute glauben, derselbe Gott, von dem
Ihnen in der Kirche erzählt wurde?«
    Shay zuckte mit den Achseln. »Egal,
welchen Weg du einschlägst, die Aussicht bleibt dieselbe.«
    Ich war fast hundertprozentig sicher,
dass ich den Spruch schon mal gehört hatte, in der einzigen
Bikram-Yoga-Sitzung, die ich je besucht hatte, ehe ich merkte, dass mein Körper
für gewisse Verbiegungen nicht geschaffen war. Ich wunderte mich, dass
Greenleaf keinen Einspruch erhob mit der Begründung, dass die Frage mit einem
Dalai-Lama-Zitat nicht beantwortet sei. Andererseits wunderte ich mich
überhaupt nicht, dass Greenleaf keinen Einspruch erhob. Je mehr Shay sagte,
desto verrückter wirkte er. Jemand, der sich auf die Religion berief, war nur
schwer ernst zu nehmen, wenn er sich wahnhaft anhörte. Shay war dabei, ein Grab
zu schaufeln, das groß genug für uns beide war.
    »Wenn der Richter entscheidet, dass Sie
durch die tödliche Injektion sterben sollen, und Sie dann Ihr Herz nicht
spenden können - wird das Gott mißfallen?«, fragte ich.
    »Es wird mir mißfallen. Somit, ja, wird
es Gott mißfallen.«
    »Und«, sagte ich, »was wird Gott daran gefallen, wenn
Sie Ihr Herz Ciaire Nealon spenden?«
    Da lächelte er mich an - die Art von
Lächeln, das man auf den Gesichtern von Heiligen in Fresken sieht und das in
einem den Wunsch weckt, ihr Geheimnis zu kennen. »Mein Ende«, sagte Shay, »ist
ihr Anfang.«
    Ich hätte noch einige Fragen mehr gehabt,
aber ehrlich gesagt, ich hatte Angst davor, was Shay antworten könnte. Er
sprach jetzt schon in Rätseln. »Danke«, erwiderte ich und nahm Platz.
    »Ich habe eine Frage, Mr Bourne«, sagte
Richter Haig. »Es ist viel über seltsame Dinge geredet worden, die im Gefängnis
passiert sind. Glauben Sie, Sie können Wunder bewirken?«
    Shay blickte ihn an. »Glauben Sie das?«
    »Tut mir leid, aber so funktioniert das
in einem Gerichtssaal nicht. Ich darf Ihre Frage nicht beantworten, aber Sie
müssen trotzdem meine beantworten. Also«, sagte der Richter, »glauben Sie, Sie
können Wunder bewirken?«
    »Ich habe nur getan, was ich tun musste.
Sie können das nennen, wie Sie wollen.«
    Der Richter schüttelte den Kopf. »Mr
Greenleaf, Ihr Zeuge.«
    Plötzlich erhob sich ein Mann im
Zuschauerraum. Er zog den Reißverschluß seiner Jacke auf, und zum Vorschein kam
ein T-Shirt, auf dem die Ziffern 3:16 prangten. Er brüllte mit heiserer Stimme: »Also hat Gott die Welt
geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab -« Schon waren zwei Sicherheitsleute
bei ihm, packten ihn und schleppten ihn vor laufenden Fernsehkameras, die auf
das Geschehen geschwenkt hatten, den Gang hinunter. »Seinen einzigen Sohn«,
brüllte der Mann. »Einzigen! Du landest in der Hölle, wenn sie dir die Adern vollgepumpt haben mit
-« Die Türen des Gerichtssaals knallten hinter ihm zu, und dann war es
mucksmäuschenstill.
    Gegen die Waffen dieses Mannes - Zorn und
Selbstgerechtigkeit - konnten die Metalldetektoren und Sicherheitskräfte am
Eingang nichts ausrichten, und in dem Augenblick hätte ich schwer sagen können,
wer einen schlechteren Eindruck gemacht hatte, er oder Shay.
    Gordon Greenleaf stand auf. »Also denn«,
sagte er und ging auf Shay zu, der wieder die gefesselten Hände auf das
Geländer des Zeugenstands gelegt hatte. »Sind Sie das einzige Mitglied Ihrer
Religion?“
    »Nein.“
    »Nein?«
    »Ich gehöre keiner Religion an.

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