Das Herz ihrer Tochter
mich klangen religiöse Schriften genauso
abgedreht und fanatisch wie die Tirade, die Shay über das Wesen der
organisierten Religion vom Stapel gelassen hatte. Aber vielleicht war Shay ja
cleverer als ich, denn sein Zitat bewirkte, dass der Richter die Lippen
spitzte. »Ist das aus der Bibel, Mr Bourne?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Shay. »Ich
erinnere mich nicht, woher das ist.«
Ein kleines Papierflugzeug kam über meine
Schulter gesegelt und landete auf meinem Schoß. Ich faltete es auseinander, las
Father Michaels hastig hingekritzelte Info. »Ja, Euer Ehren«, sagte ich rasch.
»Es ist aus der Bibel.«
»Gerichtsdiener«, sagte Richter Haig,
»bringen Sie mir die Bibel.« Er blätterte in den hauchdünnen Seiten. »Wissen
Sie zufällig, wo das steht, Ms Bloom?«
Ich wusste nicht, wann oder ob Shay
Bourne die Bibel gelesen hatte. Dieses Zitat konnte von dem Priester stammen;
es konnte von Gott stammen; es konnte der einzige Vers sein, den Shay aus dem
ganzen Alten Testament kannte. Aber irgendwie hatte er das Interesse des
Richters geweckt, der meinen Mandanten jetzt nicht mehr ungeduldig anstarrte,
sondern statt dessen mit den Fingern über die Seiten der Bibel fuhr, als wäre
sie in Blindenschrift geschrieben.
Ich erhob mich, bewaffnet mit Father
Michaels Zitatangabe. »Es steht in Jesaja, Euer Ehren«, sagte ich.
In der Mittagspause fuhr ich ins Büro.
Nicht weil ich eine so strenge Arbeitsmoral hatte (ich hatte zwar parallel zu
Shays Fall noch sechzehn weitere in Bearbeitung, aber mein Boss hatte mir
seinen Segen gegeben, alles andere erst mal auf Eis zu legen), sondern weil
ich dringend Abstand von dem Prozess brauchte. Als unsere Sekretärin mich
hereinkommen sah, blinzelte sie erstaunt. »Sollten Sie nicht am -«
»Doch«, fauchte ich und marschierte durch
den Irrgarten aus Aktenschränken zu meinem Schreibtisch.
Ich wusste nicht, welche Wirkung Shays
Ausbruch auf den Richter haben würde. Ich wusste nicht, ob ich den Fall bereits
verloren hatte, ehe die Verteidigung überhaupt ihre Zeugen aufgerufen hatte.
Aber ich wusste, dass ich seit drei Wochen nicht mehr gut schlief, mir das
Kaninchenfutter für Oliver ausgegangen war und ich einen richtig miesen Tag
hatte. Ich rieb mir mit den Händen durchs Gesicht und merkte dann, dass ich mir
wahrscheinlich die Wimperntusche verschmiert hatte.
Mit einem Seufzer musterte ich den Berg
Papierkram auf meinem Schreibtisch. Da war unter anderem ein Revisionsantrag
beim Obersten Bundesgericht, eingereicht von den Anwälten eines Skinhead, der
mit weißer Farbe Scheißpaki auf die Hauseinfahrt seines Arbeitgebers gepinselt hatte, eines pakistanischen
Ladeninhabers, der ihn gefeuert hatte, weil er betrunken zur Arbeit erschienen
war; da war eine Untersuchung darüber, warum 1954 während der
McCarthy-Ära die Worte unter
Gott per Gesetz dem Treueeid auf
die Fahne hinzugefügt wurden; und ein Stapel Post, gleichmäßig aufgeteilt
zwischen verzweifelten Seelen, für die ich kämpfen sollte, und
Erzkonservativen, die der ACLU vorwarfen, sie würde gottesgläubige weiße
Kirchgänger als Kriminelle hinstellen.
Einer der Briefe kam von der Strafanstalt
in Concord, New Hampshire.
Ich öffnete ihn und nahm das Blatt
heraus. Es war eine Einladung, der Exekution von Isaiah Bourne beizuwohnen.
Die Gästeliste umfaßte die Generalstaatsanwältin, den Gouverneur, den Anwalt,
der damals in Shays Prozess die Anklage vertreten hatte, mich, Father Michael
und etliche andere Namen, die mir nichts sagten. Laut Gesetz musste bei einer
Hinrichtung eine gewisse Anzahl von Leuten anwesend sein, sowohl aus dem Umfeld
des Häftlings als auch aus dem des Opfers.
Es waren noch fünfzehn Tage bis zu dem
Termin, an dem Shay sterben sollte.
Der erste und einzige Zeuge, den die
Verteidigung aufrief, hieß ausgerechnet Joe Lynch. Er war der Commissioner der
Strafvollzugsbehörde, ein großer dünner Mann, dem zusammen mit seiner
Kopfbehaarung offenbar auch jeder Humor abhanden gekommen war. Ich war
ziemlich sicher, dass er bei Antritt seines Jobs nicht im Traum daran gedacht
hatte, für die erste Exekution in New Hampshire seit über einem halben
Jahrhundert zuständig zu sein.
»Commissioner Lynch«, sagte Staatsanwalt
Greenleaf, »welche Vorbereitungen sind für die Exekution von Shay Bourne
getroffen worden?«
»Wie Ihnen bekannt ist«, sagte Lynch,
»war die Strafanstalt in Concord nicht für die Vollstreckung der gegen Häftling
Bourne verhängten Todesstrafe
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