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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Religion
ist der Grund, warum die Welt auseinanderfällt. Der Mann, der eben aus dem Saal
geschafft wurde, ist ein gutes Beispiel. Das bewirkt Religion. Sie macht Schuldzuweisungen. Sie löst Kriege aus.
Sie reißt Länder auseinander. Sie ist eine Petrischale, in der Vorurteile
wuchern. Bei Religion geht es nicht um Heiligkeit«, sagte Shay, »sondern um
Scheinheiligkeit.«
    Ich schloss die Augen - Shay hatte soeben
alles restlos vermasselt. Und ich konnte von Glück sagen, wenn bei mir vor dem
Haus nicht demnächst Kreuze brannten. »Einspruch«, sagte ich schwach. »Frage
nicht beantwortet.«
    »Abgelehnt«, erwiderte der Richter. »Er
ist nicht mehr Ihr Zeuge, Ms Bloom.«
    Shay brabbelte weiter, leiser jetzt.
»Wissen Sie, was Religion macht? Sie zieht eine dicke, fette Linie in den Sand.
Sie sagt: >Wenn du es nicht so machst wie ich, bist du draußen.<«
    Er war nicht laut, er war nicht
unbeherrscht. Aber er beherrschte sich auch nicht mehr. Er hob die Hände an
den Hals, um sich zu kratzen, und die Ketten baumelten klirrend gegen seine
Brust. »Diese Worte«, sagte er, »die schneiden mir die Kehle durch.«
    »Euer Ehren«, sagte ich rasch, weil ich
merkte, dass sich da gerade rasend schnell ein Nervenzusammenbruch anbahnte.
»Könnten wir eine Pause machen?«
    Shay fing an, vor und zurück zu wippen.
    »Fünfzehn Minuten«, sagte Richter Haig,
und die Marshals näherten sich dem Zeugenstand, um Shay zurück in die Zelle zu
bringen. Shay geriet in Panik und hob abwehrend die Arme. Und dann geschah es:
Die Ketten, die er an den Hand- und Fußgelenken und um die Taille trug und
deren Klirren seine Aussage untermalt hatten, fielen vor unser aller Augen
rasselnd zu Boden, als wären sie nie geschlossen gewesen.
     
    Die Religion kommt
Gott häufig in die Quere.
    Bono, beim nationalen Frühstücksgeb 2. Februar 2006
     
    MAGGIE
     
    Shay stand da, die Arme in die Seiten
gestemmt, und wirkte mindestens ebenso verblüfft wie wir über seine
unvermittelte Befreiung. Einen Augenblick lang verharrten alle fassungslos.
Dann brach im Gerichtssaal Chaos aus. Kreischende Stimmen gellten von den
Zuschauerbänken. Einer der Marshals stürzte auf den Richter zu und bugsierte
ihn hastig aus dem Saal, während der andere seine Waffe zog und Shay anbrüllte,
er solle die Hände hochnehmen. Shay reagierte nicht, und schon packte der Marshai
ihn unsanft, um ihm Handschellen anzulegen. »Halt!«, rief Father Michael hinter
mir. »Er begreift doch gar nicht, was los ist!« Aber da hatte der Marshai ihn
schon mit dem Kopf auf den Holzboden gedrückt. Shay blickte verstört zu uns.
    Ich wirbelte zu dem Priester herum. »Was
zum Teufel war das denn? Ist er jetzt nicht mehr Jesus, sondern Houdini?«
    »Solche Sachen macht er öfter«, sagte
Father Michael. Täuschte ich mich, oder schwang in seiner Stimme tatsächlich so
etwas wie Genugtuung mit? »Ich hab versucht, Ihnen davon zu erzählen.«
    »Jetzt erzähl ich Ihnen mal was«, entgegnete
ich. »Unser Freund Shay hat soeben persönlich seine Liege für die Todesspritze
reserviert, falls wir ihn nicht dazu bringen können, Richter Haig irgendwie zu
erklären, was da gerade passiert ist.«
    »Sie sind seine Anwältin«, sagte Michael.
    »Sie sind sein Seelsorger.«
    »Wie Sie sich vielleicht erinnern, spricht
Shay nicht mehr mit mir.«
    Ich verdrehte die Augen. »Könnten wir
damit aufhören, uns wie Siebtklässler aufzuführen, und endlich unsere Arbeit
machen?«
    Sein Blick glitt von mir weg, und im
selben Augenblick wusste ich, dass er noch irgend etwas Unangenehmes in petto
hatte. Der Saal hatte sich inzwischen geleert. Ich musste zu Shay und ihn so
weit zur Vernunft bringen, dass ich ihn noch einmal in den Zeugenstand holen
konnte. Ich hatte jetzt keine Zeit für Father Michaels Umständlichkeiten.
    »Ich war einer von den Geschworenen, die
Shay verurteilt haben«, sagte der Priester.
    Meine Mutter hatte einen Trick, den sie
anwandte, seit ich im Teenageralter war; wenn ich irgendwas sagte, was in ihr
den Impuls auslöste, (a) zu schreien, (b) mir eine runterzuhauen oder (c)
beides, zählte sie mit lautlosen Lippenbewegungen bis zehn, ehe sie reagierte.
Ich spürte, wie mein Mund die Silben der Zahlen formte, noch während ich mit
einigem Entsetzen erkannte, dass ich schlußendlich wie meine Mutter geworden
war. »Ist das alles?«, fragte ich.
    »Reicht das nicht?«
    Meine Gedanken überschlugen sich. Ich
konnte mir ganz schönen Ärger einhandeln, weil ich Greenleaf nichts davon

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