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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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der auf mich zukam.
    »Ja«, sagte ich. »Vielleicht musste ich
gerade deshalb kommen.«
    Father Walter zögerte. »Wissen Sie,
Mikey, Sie haben niemandem was vormachen können.«
    Ich spürte, wie sich mir die Nackenhaare
sträubten. »Nein?«
    »Sie müssen sich nicht schämen, weil Sie
eine Glaubenskrise haben«, sagte Father Walter. »Das macht uns doch nur menschlich.«
    Ich nickte, traute mich nicht, etwas zu
erwidern. Ich hatte gar keine Glaubenskrise. Ich fand bloß nicht, dass Father
Walter mit seinem Glauben irgendwie richtiger lag als Shay.
    Father Walter stellte eine Kerze auf,
zündete sie an und murmelte ein Gebet. »Wissen Sie, wie ich das sehe? Da
draußen wird es immer schlimme Dinge geben. Aber das Erstaunliche ist - Licht
siegt über Dunkelheit, jedes Mal. Man kann eine Kerze ins Dunkle halten, aber
man kann das Dunkle nicht ins Licht halten.« Wir schauten beide in die neue
kleine Flamme. »Ich will es mal so sagen, wir können uns dafür entscheiden, im
Dunkeln zu bleiben, oder wir können eine Kerze anzünden. Und für mich ist
Christus diese Kerze.«
    Ich sah ihn an. »Aber es gibt nicht nur
Kerzen, oder? Es gibt auch Taschenlampen, Neonröhren und Lagerfeuer ...«
    »Christus sagt, dass es andere gibt, die
in seinem Namen Wunder tun«, pflichtete Father Walter bei. »Ich habe nie
gesagt, dass es da draußen nicht Millionen Lichter geben könnte - ich glaube
bloß, Jesus ist derjenige, der das Streichholz entzündet.« Er lächelte.
»Eigentlich hab ich nicht ganz verstanden, warum Sie so überrascht waren, als
Sie glaubten, Gott wäre erschienen, Mikey. Ich meine, wann war er denn mal
nicht da?«
    Father Walter drehte sich um und ging den
Mittelgang hinunter, und ich folgte ihm. »Haben Sie in den nächsten Wochen mal
Zeit für ein Mittagessen bei mir?«, fragte er.
    »Leider nicht«, sagte ich grinsend. »Da
hab ich eine Beerdigung.« Es war ein Scherz unter Geistlichen - du konntest
nie fest planen, weil dir Leben und Sterben deiner Schäfchen immer wieder in
die Quere kamen.
    Aber als ich es diesmal aussprach, merkte
ich, dass es kein Scherz war. Vielleicht schon in wenigen Tagen würde ich Shays
Beerdigung abhalten.
    Father Walter fing meinen Blick auf.
»Viel Glück heute, Mikey. Ich werde beten.«
    Unversehens musste ich an den
lateinischen Ursprung des Wortes Religion denken: religare. Ich
hatte es immer mit wiederverbinden übersetzt. Erst im Seminar lernte ich die
korrekte Übersetzung des Wortes: festbinden.
    Damals hatte ich keinen großen
Unterschied gesehen.
     
    Als ich in St. Catherine anfing, wurde
ich mit der Aufgabe betraut, ein Herz aufzubewahren, und zwar das von
Jean-Marie Baptiste Vianney - einem französischen Priester, der 1859 im Alter von
dreiundsiebzig Jahren gestorben war. Als er fünfundvierzig Jahre später
exhumiert wurde, war sein Herz unverwest. Unsere Gemeinde war als Ort für die
Verehrung des Herzens in den USA auserkoren worden, und wir rechneten mit
Tausenden Pilgern aus dem Nordosten.
    Ich erinnerte mich noch, wie angespannt
ich war und dass ich mich damals fragte, wieso ich mich mit Polizeikordons und
Straßensperren befassen musste, wo ich doch Priester geworden war, um Gott näher zu sein. Bei dem
Ansturm von Gläubigen auf unsere kleine Kirche war ein geregelter Messe- und
Beichtplan nicht mehr einzuhalten. Doch wenn die Pilger abends fort waren und
die Türen geschlossen, stand ich vor der Glasvitrine und blickte auf das Organ,
das darin ausgestellt war. Das eigentliche Wunder für mich war die Abfolge von
Ereignissen, die dazu geführt hatten, dass die alte Reliquie den weiten Weg
über einen Ozean antrat, um bei uns verehrt zu werden. Wenn nämlich das Grab
des Priesters nicht geöffnet worden wäre, wäre das unverweste Herz nie
gefunden, seine Geschichte nie erzählt worden. Ein Wunder war erst dann ein
Wunder, wenn es Zeugen gab, die es sahen und anderen davon erzählten.
    Maggie saß mit Shay vor mir, den Rücken
kerzengerade, die wilde Haarmähne in einem Nackenknoten gezähmt. Shay wirkte
bedrückt, gejagt, unruhig. Ich blickte auf meinen Schoß, wo ein Kuvert lag, das
Maggie mir gegeben hatte - darin ein Bild, das Lucius DuFresne, der am
Wochenende gestorben war, uns beiden hinterlassen hatte. Sie hatte auch einen
Zettel mit einer kurzen Nachricht dazugesteckt:
    June hat das Herz abgelehnt. Shay weiß es
noch nicht.
    Falls wir den Fall wider Erwarten
gewannen - wie sollten wir Shay dann beibringen, dass wir ihm trotzdem nicht
geben konnten,

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