Das Herz ihrer Tochter
verloren hatte?
Doch statt nach Hause zu fahren, schlug
ich die entgegengesetzte Richtung ein und bog schließlich in die Einfahrt zur
Notaufnahme des Krankenhauses. Ich fühlte mich wie vor den Kopf geschlagen -
was sicherlich als Voraussetzung für eine ärztliche Behandlung reichte -, aber
ich glaubte nicht, dass selbst der begnadetste Arzt eine Skeptikerin heilen
konnte, die endlich die Wahrheit erkannt hat: Ich konnte nicht so emotional
distanziert zu meinem Mandanten bleiben, wie ich geglaubt hatte. Es ging hier
nicht um die Todesstrafe in Amerika, wie ich mir eingeredet hatte. Es ging auch
nicht um meinen beruflichen Erfolg. Es ging um einen Mann, der neben mir
gesessen hatte, einen Mann, dessen Geruch ich kannte
(Head-&-Shoulders-Shampoo und Kernseife), dessen Stimme mir vertraut war (rau
wie Schleifpapier) und der schon sehr bald tot sein würde. Ich kannte Shay
Bourne nicht gut, aber das hieß nicht, dass er nicht ein Loch in meinem Leben
hinterlassen würde, wenn er aus seinem ging.
»Ich möchte zu Dr. Gallagher«, erklärte
ich der Schwester am Empfang. »Ich bin...«
Was?
Eine Freundin? Seine
Partnerin? Eine Stalkerin?
Doch ehe die Schwester mir eine Abfuhr
erteilen konnte, sah ich Christian mit einem anderen Arzt den Gang herunterkommen.
Er bemerkte mich, und noch ehe ich mich entscheiden konnte, zu ihm zu gehen,
kam er zu mir. »Was ist passiert, Liebes?«
Niemand außer meinem Vater hatte mich je
so genannt. Aus diesem Grund und aus zig anderen brach ich in Tränen aus.
Christian schloss mich in die Arme.
»Komm«, sagte er und führte mich an der Hand in ein leeres Wartezimmer.
»Der Gouverneur hat Shay keinen
Vollstreckungsaufschub gewährt«, sagte ich. »Und Shays bester Freund ist
gestorben, und ich musste ihm die Nachricht überbringen. Und er wird sterben,
Christian, weil er nicht will, dass ich nach neuen Beweisen für seine Unschuld
suche.« Ich löste mich von ihm, fuhr mir mit dem Ärmel über die Augen. »Wie
machst du das? Wie wirst du mit so was fertig?«
»Die erste Patientin, die mir unter den
Händen gestorben ist«, sagte Christian, »war eine sechsundsiebzig Jahre alte
Frau, die nach einem Essen in einem Edelrestaurant in London mit Unterleibsschmerzen
in die Notaufnahme gekommen war. Während der OP setzte ihr Herz aus, und wir
konnten sie nicht zurückholen.« Er sah mir in die Augen. »Als ich ihrem Mann
die Nachricht beibrachte, starrte er mich bloß an. Schließlich hab ich ihn
gefragt, ob er irgendwelche Fragen hätte, und er sagte, er hätte seine Frau zum
Essen ausgeführt, um ihren fünfzigsten Hochzeitstag zu feiern.« Christian
schüttelte den Kopf. »In der Nacht hab ich neben ihrem Leichnam gewacht. Es
klingt albern, ich weiß, aber ich hab gedacht, dass keiner es verdient hat, an
seinem fünfzigsten Hochzeitstag die Nacht allein zu verbringen.«
Wenn Christian mich nicht schon vorher
mit seinem Charme, seinem guten Aussehen und seinem britischen Humor erobert
hätte, so wäre ich spätestens jetzt hin und weg gewesen.
»Ich kann dir nur so viel sagen«, fügte
Christian hinzu. »Es wird nicht leichter, egal, wie oft du so etwas durchmachen
mußt. Und wenn es doch leichter wird - dann bedeutet das, glaub ich, dass du
irgendeinen enorm wichtigen Teil von dir verloren hast.« Er nahm meine Hand.
»Ich möchte offiziell als Arzt bei der Hinrichtung dabei sein.«
»Das darfst du nicht«, sagte ich
automatisch. Einen Menschen zu töten war ein Verstoß gegen den Hippokratischen
Eid; Ärzte wurden von der Strafvollzugsbehörde privat kontaktiert, und über die
ganze Sache wurde Stillschweigen bewahrt. In den Berichten über andere
Exekutionen, die ich als Vorbereitung auf Shays Prozess studiert hatte, wurde
der Name des Arztes gar nicht aufgeführt - er stand nicht mal auf dem
Totenschein.
»Das lass mal meine Sorge sein«, sagte
Christian.
Wieder schossen mir Tränen in die Augen.
»Das würdest du für Shay tun?«
Er beugte sich vor und küsste mich sanft.
»Ich würde es für dich tun«, sagte er.
Wenn es sich um einen Gerichtsprozess
gehandelt hätte, dann hätte ich den Geschworenen folgende Fakten vorgetragen:
1. Es war Christians
Vorschlag gewesen, nach seiner Schicht noch auf einen Sprung bei mir
vorbeizuschauen, nur um sich zu vergewissern, dass ich nicht völlig
zusammenbrach.
2. Die Flasche Rotwein
hatte er mitgebracht.
3. Es wäre absolut unhöflich
gewesen, nicht wenigstens ein Glas zu trinken. Oder drei.
4.
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