Das Herz ihrer Tochter
was er so verzweifelt wollte?
»Bitte erheben Sie sich«, rief der
Gerichtsdiener.
Maggie warf mir einen kurzen Blick über
die Schulter zu und lächelte verkrampft, und dann erhoben sich alle Anwesenden,
als Richter Haig den Saal betrat.
Man hätte eine Stecknadel fallen hören
können, als der Richter das Wort ergriff. »Dieser Fall ist einzigartig in der
Geschichte der Justiz von New Hampshire«, sagte Haig, »vielleicht sogar der
Vereinigten Staaten. Das Recht auf freie Religionsausübung gilt auch für
Personen, die Insassen einer Strafanstalt sind wie Mr Bourne, aber das bedeutet
nicht, dass eine Person einfach behaupten kann, ihre Überzeugungen machten
eine echte Religion aus. Man braucht sich beispielsweise nur vorzustellen, was
passieren würde, wenn ein zum Tode verurteilter Häftling erklären würde, die
Grundsätze seiner Religion verlangten von ihm, an Altersschwäche zu sterben.
Daher muss dieses Gericht bei der Abwägung der religiösen Rechte von
Strafgefangenen gegen das zwingende Gemeinwohlinteresse des Staates mehr
berücksichtigen als nur die finanziellen Kosten oder die Sicherheit der übrigen
Insassen.«
Der Richter faltete die Hände. »Zudem ist
es in diesem Land nicht unsere Gepflogenheit, der Regierung die Definition zu
erlauben, was eine Kirche ist oder umgekehrt. Und das bringt uns in eine
Zwickmühle - es sei denn, wir können einen Lackmustest entwickeln, was
Religion wirklich ist. Also, wie finden wir das heraus? Nun, das Einzige,
worauf wir zurückgreifen können, ist die Geschichte. Dr. Fletcher hat
Ähnlichkeiten zwischen dem Gnostizismus und Mr Bournes Überzeugungen dargelegt.
Dennoch, der Gnostizismus ist im heutigen Weltklima keine blühende Religion -
es ist nicht einmal eine existierende Religion. Ich maße mir zwar nicht an,
mich mit der Geschichte des Christentums so gut auszukennen wie Dr. Fletcher,
doch ich halte es für gewagt, das Glaubenssystem eines einzelnen Häftlings
einer Strafanstalt von New Hampshire mit einer religiösen Sekte in Verbindung
zu bringen, die seit fast zweitausend Jahren tot ist.«
Maggies Hand tauchte hinter ihrem Rücken
zwischen den Streben des Geländers auf, das die erste Reihe der Zuschauerbänke
vom Tisch des Klägers trennte. Ich griff nach dem gefalteten Zettel zwischen
ihren Fingern. WIR SIND ERLEDIGT, hatte sie geschrieben.
»Andererseits«, fuhr der Richter fort,
»wirken einige von Mr Bournes Beobachtungen über Spiritualität und Göttlichkeit
ungemein vertraut. Mr Bourne glaubt an einen einzigen Gott. Mr Bourne glaubt,
Erlösung sei an Religionsausübung gebunden. Mr Bourne meint, der Vertrag
zwischen Mensch und Gott beinhalte auch persönliche Opfer. All das sind
durchaus vertraute Vorstellungen für den Durchschnittsamerikaner, der eine der
anerkannten Religionen praktiziert.«
Er räusperte sich. »Einer der Gründe,
warum Religion in einem Gerichtssaal nichts zu suchen hat, ist der, dass sie
etwas zutiefst Persönliches ist. Doch Mr Bourne hat etwas gesagt, das diesem
Gericht zu denken gegeben hat.« Richter Haig wandte sich an Shay. »Ich selbst
bin kein religiöser Mensch. Ich habe seit vielen Jahren keinen Gottesdienst
mehr besucht. Aber ich glaube an Gott. Meine Religionsausübung, so könnte man
sagen, ist eine Nichtausübung. Ich persönlich meine, am Wochenende den Rasen
eines älteren Nachbarn zu harken oder auf einen Berg zu steigen und die
Schönheit der Welt zu bestaunen ist genauso viel wert, wie Hosianna zu singen
oder in den Gottesdienst zu gehen. Mit anderen Worten, ich glaube, jeder Mensch
findet seine eigene Kirche - und nicht jede hat vier Wände. Aber nur weil ich
mich entschieden habe, meinen Glauben so zu handhaben, heißt das noch lange
nicht, dass ich mich mit institutionalisierter Religion nicht auskenne. Im
Gegenteil, manches von dem, was ich als junger Mensch bei der Vorbereitung auf
meine Bar-Mizwa gelernt habe, hallt noch heute in mir nach.«
Mir klappte der Unterkiefer herunter.
Richter Haig war Jude?
»Der jüdische Mystizismus kennt den
Begriff Tikkun Olam«, sagte er. »Er bedeutet im wörtlichen Sinne >die Welt
reparieren<. Dahinter steckt der Gedanke, dass Gott, als er die Welt
erschuf, Gefäße herstellte, die das göttliche Licht aufnehmen sollten. Doch
einige davon zerbrachen, und die Bruchstücke verteilten sich überall. Es ist
nun Aufgabe der Menschheit, Gott beim Wiedereinsammeln und Zusammensetzen der
Scherben zu helfen - und zwar durch gute Werke und Taten. Jedes Mal, wenn
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