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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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nicht, wen sie in vierundzwanzig Stunden hängen würden. Shays
Namen in den Mund zu nehmen, dazu fehlte ihnen der Mut. Dann hätten sie nämlich
das Gefühl, sie würden selbst einen Mord begehen - genau das Verbrechen, für
das sie einen Menschen aufhängten.
    Direktor Coyne drehte sich zu der anderen
Kabine um. »Ist das für Sie so okay?«
    Die Tür öffnete sich, und ein Mann trat
heraus, der mir irgendwie bekannt vorkam. Er legte dem falschen Gefangenen
eine Hand auf die Schulter. »Darf ich mal?«, sagte er, und im selben Moment
fiel mir wieder ein, wer er war: der Brite, der bei Maggie gewesen war, als
ich sie zu Hause gestört hatte, um ihr zu sagen, dass ich Shay für unschuldig
hielt - Gallagher, so hieß er. Er lockerte die Schlinge ein wenig und verschob
sie so, dass der Knoten genau unter dem linken Ohr des Aufsehers saß, ehe er
erneut festzog. »Haben Sie gesehen? Der Knoten darf nicht an der Schädelbasis
liegen. Seine richtige Position und die Wucht des Falls bewirken den Bruch der
Halswirbelsäule und durchtrennen das Rückenmark.«
    Direktor Coyne wandte sich wieder an
seine Leute. »Laut Gerichtsentscheid setzen wir den Hirntod voraus, da nach
erfolgter Vollstreckung die Atmung des Häftling aussetzt. Sobald der Arzt uns
das Zeichen gibt, wird auch der untere Vorhang geschlossen und der Körper
sofort abgenommen. Vergessen Sie nicht, unsere Arbeit endet nicht mit der
Vollstreckung.« Er wandte sich an den Arzt. »Und dann?«
    »Wir werden intubieren, um das Herz und
andere Organe zu schützen. Anschließend kontrolliere ich die Hirndurchblutung,
um den Hirntod zweifelsfrei zu bestätigen, und wir bringen den Körper weg.«
    »Ab da übernimmt das Personal von der
Rechtsmedizin. Die haben hinter dem Zelt einen Krankenwagen stehen, der als solcher
nicht zu erkennen ist«, sagte der Direktor. »Dann geht es auf schnellstem Weg
ins Krankenhaus.«
    Mir fiel auf, dass der Direktor auch den
Namen des Arztes nicht aussprach.
    »Die Besucher verlassen das Zelt durch
den Vorderausgang«, fuhr Coyne fort, und als er in die Richtung deutete,
bemerkte er mich.
    Alle auf der Galgenplattform starrten
mich an. Dr. Gallagher nickte kaum merklich. Direktor Coyne kniff die Augen
zusammen, und als er mich erkannte, seufzte er. »Sie dürfen nicht hier sein,
Father Michael«, sagte er, doch noch ehe die Aufseher mich hinauseskortieren
konnten, war ich schon wieder Richtung Gefängnisgebäude verschwunden, wo Shay
darauf wartete zu sterben.
     
    Am Abend wurde Shay ins Todeszelt
gebracht. Sie hatten dort eine Zelle gebaut, die ebenfalls rund um die Uhr
bewacht wurde. Zuerst war sie wie jede andere Zelle auch ... doch als Shay zwei
Stunden drin war, sackte die Temperatur spürbar. Shay zitterte schließlich wie
Espenlaub, selbst dann noch, als ihm mehrere Wolldecken gebracht worden waren.
    »Das Thermometer zeigt achtzehn Grad«,
sagte der Aufseher und schlug mit der Hand dagegen. »Wir haben Mai, verdammt
noch mal.«
    »Na, fühlt es sich für Sie etwa an wie achtzehn Grad?«, fragte ich. Meine Zehen
waren gefühllos vor Kälte. An der unteren Strebe meines Hockers hatte sich ein
Eiszapfen gebildet. »Können wir ein Heizöfchen haben? Und noch eine
Wolldecke?«
    Die Temperatur fiel weiter. Ich zog meine
Jacke an und schloss den Reißverschluß bis zum Hals. Shay schlotterte jetzt am
ganzen Körper. Seine Lippen waren blau angelaufen. Eisblumen wuchsen auf der
Metalltür der Zelle, wie weißer fedriger Farn.
    »Draußen ist es deutlich wärmer«, sagte
der Aufseher. »Ich kapier das nicht.« Er blies sich in die Hände, ein kleiner
Atemstoß, der in der Luft verharrte. »Ich könnte den Wartungsdienst rufen ...«
    »Lassen Sie mich in die Zelle«, sagte
ich.
    Der Aufseher blinzelte mich an. »Darf ich
nicht.«
    »Wieso? Ich bin zweimal durchsucht
worden. Ich bin nicht in der Nähe von anderen Häftlingen. Und Sie sind da. Es ist die gleiche
Situation wie im Besprechungsraum, oder nicht?«
    »Dafür könnte ich gefeuert werden ...«
    »Ich sag dem Direktor, es war meine Idee,
und ich verspreche Ihnen, ich mache keine Dummheiten«, sagte ich. »Ich bin
Priester. Würde ich Sie belügen?«
    Er schüttelte den Kopf und schloss die
Tür auf. Kaum hatte ich Shays enge Welt betreten, hörte ich, wie sich der
Schlüssel erneut im Schloss drehte. Shay blickte mich zähneklappernd an.
    »Rutschen Sie ein Stück«, sagte ich und
setzte mich neben ihn auf die Pritsche. Ich breitete die Decken über uns beide
aus und wartete, bis

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