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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Shay eine Woche vor der Exekution in eine Beobachtungszelle
verlegt. Eine Kamera überwachte ihn, ein Aufseher wurde vor der Tür postiert,
damit der Gefangene sich nicht umbringen konnte, bevor der Staat dazu antrat.
    Shay fand die Bewachung furchtbar -
darüber klagte er immer wieder, während ich acht Stunden am Tag bei ihm saß.
Ich las ihm aus der Bibel vor und aus dem Thomasevangelium und aus der Sports Illustrated. Ich
erzählte ihm von meinen Plänen, mit der Jugendgruppe am vierten Juli, einem
Feiertag, den er nicht mehr erleben würde, eine Kuchenauktion zu veranstalten.
Er tat so, als würde er zuhören, doch dann wandte er sich unvermittelt an den
Aufseher, der draußen Wache hielt. »Meinen Sie nicht, ich hätte ein wenig
Privatsphäre verdient?«, brüllte er. »Wenn Sie nur noch eine Woche zu leben
hätten, würden Sie sich dann gern bei allem, was Sie machen, zusehen lassen?
Egal, ob Sie weinen, essen oder pinkeln?«
    Manchmal schien er sich damit abgefunden
zu haben, dass er sterben würde - dann fragte er mich, ob ich wirklich glaubte,
dass es einen Himmel gebe, ob man da Barsche oder Lachse oder Forellen fangen
könne, ob Fische überhaupt in den Himmel kämen, ob die Seelen der Fische genauso lecker
wären wie die Fische selbst. Aber es kam auch vor, dass er so heftig weinte,
dass er sich übergeben musste; dann wischte er sich den Mund am Ärmel seines
Overalls ab, legte sich auf die Pritsche und starrte an die Decke. Aus solchen
dunkleren Momenten ließ er sich nur reißen, wenn wir über Ciaire Nealon sprachen,
deren Mutter sich nun doch für Shays Herz entschieden hatte. Er hatte ein
unscharfes Zeitungsfoto von Ciaire, und inzwischen war er so oft mit den
Händen darübergefahren, dass das blasse Gesicht des Mädchens ein leeres weißes
Oval geworden war, das nur noch die Vorstellungskraft mit Leben füllen konnte.
    Das Gerüst für den Galgen war errichtet
worden; in der ganzen Strafanstalt roch es nach Kiefernholz, und die Luft
schmeckte nach feinem Sägemehl. Die stabile Holzkonstruktion erhob sich neben
dem Vollstreckungsraum, der zuvor fertiggestellt worden war. Doch als der Concord Monitor und
der Union Leader in ihren Leitartikeln die Barbarei einer öffentlichen Hinrichtung
kritisierten (sie spekulierten, dass Paparazzi, die es schafften, von einem
Hubschrauber aus Fotos von Madonnas Hochzeit zu schießen, bestimmt auch in der
Lage seien, heimlich Aufnahmen von der Hinrichtung zu machen), bemühte Direktor
Coyne sich schleunigst um Maßnahmen, den Galgen zu verbergen. Die beste Lösung,
die sich so kurzfristig anbot, war der Kauf eines alten Zirkuszeltes, das,
fröhlich rot-blau gestreift, bald darauf fast den gesamten Gefängnishof
einnahm. Die Spitze war von der Route 93 aus zu sehen: Hereinspaziert!
Die größte Schau der Welt.
    Es war ein seltsames Gefühl zu wissen,
dass ich Shay würde sterben sehen. Ich war zwar schon etliche Male an
Sterbebetten gerufen worden, hatte miterlebt, wie sie ihren letzten Atemzug
taten - doch das hier war etwas anderes. Es war nicht Gott, der den Lebensfaden
durchschnitt, sondern ein Gerichtsurteil. Ich trug meine Uhr nicht mehr und maß
die Zeit statt dessen an Shays Leben. Aus zweiundsiebzig Stunden, die ihm noch
blieben, wurden achtundvierzig und dann nur noch vierundzwanzig. Ich schlief
nicht mehr, genau wie Shay, blieb lieber mit ihm zusammen rund um die Uhr
wach.
    Grace besuchte ihn jeden Tag. Sie wollte
mir nicht verraten, was genau sie beide all die Jahre getrennt hatte - das
Problem war seit ihrem Besuch bei June Nealon aber offenbar aus der Welt -, und
sagte, sie wolle ein wenig von der verlorenen Zeit mit ihrem Bruder aufholen.
Stundenlang saßen sie da, die Köpfe zusammengesteckt, und tauschten
Erinnerungen aus, doch in einem Punkt blieb Shay eisern: Grace sollte nicht bei
der Exekution dabei sein, damit das nicht ihre letzte Erinnerung an ihn war.
Statt dessen würde es drei offizielle Zeugen geben: mich, Maggie und Maggies
Chef. Wenn Grace zu Besuch kam, ließ ich sie mit Shay allein. Dann ging ich in
die Cafeteria, trank eine Limo und las die Zeitung. Manchmal sah ich mir in dem
Fernseher dort die Berichterstattung über die bevorstehende Hinrichtung an -
die amerikanische Ärztekammer hatte eine Demo vor dem Gefängnis organisiert,
mit riesigen Spruchbändern, auf denen PRIMUM NON NOCERE - VOR ALLEM NICHT SCHADEN prangte. Diejenigen, die immer noch glaubten, dass Shay, nun ja, mehr
als bloß ein Mörder war, zündeten abends Kerzen

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