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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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an, Tausende, die zusammen eine
Botschaft ergaben, so hell, dass Flugzeugpiloten sie nach ihrem Start in
Manchester von hoch oben am Himmel lesen konnten: ERBARME DICH.
    Die meiste Zeit betete ich. Zu Gott, zu
Shay, zu jedem, der bereit war zuzuhören. Und ich hoffte - hoffte, dass Gott
Shay in letzter Minute verschonen würde. Es wäre bestimmt schon schwer gewesen,
einen zum Tode verurteilten Häftling seelsorgerisch zu betreuen, den ich für
schuldig hielt, aber es war noch viel schwerer, einen Unschuldigen zu betreuen,
der sich in sein Schicksal ergeben hatte. Nachts träumte ich von Zugunglücken.
Ich konnte noch so laut schreien, jemand möge die Weiche verstellen, keiner
verstand, was ich meinte.
    Als Grace am Tag vor Shays Exekution kam,
ging ich in den Innenhof, wo das Zirkuszelt stand. Diesmal jedoch war von den
Aufsehern, die normalerweise davor Wache standen, nichts zu sehen, und die
sonst fest verzurrte Eingangsplane war hochgeklappt. Ich hörte Stimmen von
drinnen:
    ... möglichst nicht zu nahe an den Rand
treten...
    ... dreißig Sekunden vom hinteren Eingang
bis zu den Stufen...
    ... zwei von euch vorne, drei hinten.
    Ich streckte den Kopf hinein, rechnete
damit, von einem Aufseher vertrieben zu werden - doch die kleine Gruppe im
Zelt nahm mich gar nicht wahr. Auf einer Holzplattform stand Direktor Coyne
zusammen mit sechs Aufsehern. Einer war etwas kleiner als die anderen und trug
Hand- und Fußschellen und eine Kette um die Taille. Er ließ sich nach hinten
sacken, ein schlaffes Gewicht in den Händen seiner Kollegen.
    Der Galgen selbst bestand aus einem
aufrecht stehenden Metallpfosten mit einem Querbalken, und in der Plattform
darunter war eine doppelte Falltür. Unter der Falltür war ein freier Raum,
damit man sehen konnte, wie der Körper fiel. Etwas abseits links und rechts vom
Galgen befanden sich kleine Räume mit einem Einwegspiegel auf der Vorderseite,
sodass man hinaus-, aber nicht hineinschauen konnte. Hinter dem Galgen war eine
Rampe, und zwei weiße Vorhänge verliefen über die gesamte Länge des Zeltes -
der eine oberhalb des Galgens, der andere unterhalb. Während ich zuschaute,
schleppten zwei von den Aufsehern ihren kleineren Kollegen bis zur Falltür vor
dem offenen Vorhang.
    Direktor Coyne drückte einen Knopf an
seiner Stoppuhr. »Und ... aus«, sagte er. »Insgesamt sieben Minuten,
achtundvierzig Sekunden. Gut gemacht.«
    Der Direktor deutete auf die Wand. »Die
beiden roten Telefone da sind direkt mit dem Büro des Gouverneurs und dem des
Generalstaatsanwalts verbunden - der Commissioner wird sie anrufen, um sich zu
vergewissern, dass nicht in letzter Minute ein Vollstreckungsaufschub oder eine
Begnadigung erlassen wurde. Falls ja, kommt er auf die Plattform und gibt das
bekannt. Wenn nicht, gehe ich hoch und verlese die Vollstreckungsanordnung,
dann frage ich den Häftling, ob er noch ein paar Worte sagen will. Falls ja,
bleibe ich auf der Plattform, bis er fertig ist. Sobald ich die aufgeklebte
gelbe Linie da überschritten habe, schließt sich der obere Vorhang, und ihr
zwei bereitet den Häftling vor. So, ich werde die Vorhänge jetzt nicht
schließen, aber macht mal vor.«
    Sie stülpten dem kleineren Aufseher eine
weiße Kapuze über den Kopf und legten ihm die Schlinge um den Hals. Sie war aus
mit Leder umhülltem Seil und hatte keinen Henkersknoten, sondern eine
Messingöse.
    »Wir haben eine Falltiefe von zwei Meter
dreißig«, erklärte Direktor Coyne, als seine Leute fertig waren, »wie für einen
Mann von knapp achtundfünfzig Kilo üblich. Während der eigentlichen
Vollstreckung werden Sie drei - Hughes, Hutchins und Greenwald - sich in dem
Raum rechts befinden. Sie werden früh genug dort sein, damit niemand Sie das
Zelt betreten sieht. Sie werden jeder einen Knopf vor sich haben. Sobald ich
den Kontrollraum betrete und die Tür schließe, drücken Sie die Knöpfe. Nur
einer von den drei Knöpfen öffnet automatisch die Bodenklappe des Galgens, die
anderen beiden sind Attrappen. Welcher von den drei Knöpfen aktiv ist,
entscheidet ein Computer nach dem Zufallsprinzip.«
    Einer der Aufseher meldete sich zu Wort.
»Und was ist, wenn der Häftling nicht selbstständig stehen kann?«
    »Wir haben ein Stützbrett vor seiner
Zelle in Bereitschaft - so eines wie das, das '94 in Walla Walla benutzt wurde.
Wenn er nicht allein gehen kann, wird er darauf festgeschnallt und mit einer
Rolltrage transportiert.«
    Sie sprachen immerzu von dem »Häftling«,
als wüßten sie

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