Das Herz ihrer Tochter
er sah
deutlich älter aus. Er hatte jetzt graue Schläfen, war aber noch immer schlank
und drahtig. Ich zögerte schweigend, wartete ab, ob er die Augen aufreißen
würde, weil er mich erkannt hatte, ob er gegen die Tür hämmern und verlangen
würde, den Mann rauszuschaffen, der seine Hinrichtung mit zu verantworten
hatte.
Aber wenn man ein geistliches Gewand
trägt, geschieht etwas Seltsames: Du bist kein Mensch mehr. Du bist irgendwie
mehr und gleichzeitig weniger. Ich habe schon erlebt, dass in meinem Beisein
Geheimnisse geflüstert wurden, dass Frauen sich unter den Rock griffen, um die
Strumpfhose hochzuziehen. Wie ein Arzt soll ein Priester unerschütterlich sein,
ein Beobachter. Wenn man zehn Leute, die mich kennen, nach meinem Äußeren
fragen würde, würden acht von ihnen nicht sagen können, welche Farbe meine
Augen haben. Was sie vor allem sehen, ist mein Priesterkragen.
Shay kam direkt zur Zellentür und
grinste. »Sie sind gekommen«, sagte er.
Ich schluckte. »Shay, ich bin Father
Michael.«
Er drückte die Hände flach gegen die Tür.
Ich musste an eines der Beweisfotos denken, dieselben Finger dunkel vom Blut
eines kleinen Mädchens. Ich hatte mich in den letzten elf Jahren so sehr
verändert, aber was war mit Shay Bourne? Empfand er Reue? War er gereift?
Wünschte er, wie ich, er könnte seine Fehler auslöschen?
»Fley, Father«, rief eine Stimme - später
erfuhr ich, dass es Calloway Reece war -, »haben Sie ein paar Oblaten dabei?
Ich hab tierischen Hunger.«
Ich reagierte nicht, sondern
konzentrierte mich weiter auf Shay. »Nun denn ... Sie sind also katholisch?«
»Eine Pflegemutter hat mich taufen
lassen«, sagte Shay. »Vor tausend Jahren.« Er blickte mich an. »Die hätten
Ihnen auch den Besprechungsraum geben können, den für Anwälte.«
»Der Direktor meinte, ich müsste mich so
mit Ihnen unterhalten, vor Ihrer Zelle.«
Shay zuckte die Achseln. »Ich hab nichts
zu verbergen.«
Und Sie?, hörte ich, obwohl er nichts gesagt hatte.
»Da verpassen sie uns jedenfalls Hep C«,
sagte Shay.
»Hep C?«
»Am Haarschneidetag. Jeden zweiten
Mittwoch. Dann gehen wir in den Besprechungsraum, und die scheren uns den Kopf.
Auch wenn man die Haare im Winter lieber länger haben will. Weil es nämlich im
Winter nicht richtig warm wird. Ab November ist es eiskalt.« Er wandte sich an
mich. »Wieso können die im November nicht anständig heizen und dafür jetzt
weniger?«
»Ich weiß nicht.«
»Es kommt von den Klingen.«
»Bitte?«
»Blut«, sagte Shay. »An den Scherköpfen.
Einer wird geschnitten, und ein anderer kriegt Hep C.«
Es war schwer, ihm zu folgen, so
sprunghaft, wie er redete. »Ist Ihnen das passiert?«
»Es ist anderen passiert, deshalb, klar,
ist es auch mir passiert.«
Was ihr getan habt einem unter diesen
meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.
Mir war schwindelig. Ich hoffte, dass es
von Shays Sprunghaftigkeit kam und keine Panikattacke im Anmarsch war. Seit elf
Jahren litt ich daran, seit dem Tag, an dem wir Shay verurteilt hatten. »Aber
überwiegend geht es Ihnen gut?«
Kaum hatte ich es ausgesprochen, hätte
ich mir am liebsten selbst in den Hintern getreten. Wie konnte ich einen Mann,
der den Tod vor Augen hatte, fragen, ob es ihm gut gehe.
»Ich fühle mich oft einsam«, antwortete
Shay.
Automatisch erwiderte ich: »Gott ist bei
Ihnen.«
»Ja«, sagte er, »aber er spielt lausig
Dame.«
»Glauben Sie an Gott?«
»Warum glauben Sie an Gott?« Er beugte sich vor,
plötzlich angespannt. »Haben sie Ihnen erzählt, dass ich mein Herz spenden
will?«
»Darüber würde ich
gern mit Ihnen reden, Shay.“
»Gut. Ansonsten will
keiner helfen.“
»Was ist mit Ihrem
Anwalt?«
»Den hab ich gefeuert.« Shay zuckte die
Achseln. »Er hat sämtliche Berufungen verloren, und dann hat er davon geredet,
zum Gouverneur zu gehen. Der Gouverneur ist nicht mal aus New Hampshire, wußten
Sie das? Er wurde in Mississippi geboren. Da wollte ich immer mal hin. Mit so
einem Kasinodampfer den Mississippi runterfahren, wie ein richtiger Glücksspieler.«
»Ihr Anwalt...«
»Der wollte, dass der Gouverneur meine
Strafe in lebenslänglich umwandelt, aber das ist bloß eine andere Art von
Todesstrafe. Also hab ich ihn gefeuert.«
Ich musste an Direktor Coyne denken, wie
sicher er war, dass Shay Bourne nur mit einem Trick seine Hinrichtung
verhindern wollte. Und wenn er sich irrte? »Soll das heißen, Sie wollen sterben,
Shay?«
»Ich will leben«,
sagte er.
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