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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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derjenige mit dem grünen Daumen.
Manchmal stand er in aller Herrgottsfrühe auf, um draußen zwischen unseren Lilien
und Fetthennen Unkraut zu jäten. Selig
sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich bestellen, sagte er einmal.
    Besitzen, korrigierte ich ihn. Sie
werden es besitzen.
    Egal, meinte Adam und lachte, wenn
sie's besitzen, werden sie's ja wohl auch bestellen.
    Er sagte immer, wenn man einen Löwenzahn
rausreißt, wachsen zwei neue nach. Ich schätze, Löwenzahn ist das botanische
Pendant zu den Männern in diesem Gefängnis. Auf jeden von uns, der hier landet,
kommen zwei neue, die die Straßen unsicher machen.
    Da Crash nun wieder in Einzelhaft saß und
Joey auf der Krankenstation lag, war es merkwürdig still in Block I. Als
Strafe für die Prügel, die Joey hatte einstecken müssen, war uns für einen Tag
Duschen und Hofgang gestrichen worden. Shay tigerte auf und ab. Zuvor hatte er
darüber geklagt, dass ihm vom Summen der Klimaanlage die Zähne vibrierten.
Manchmal wurden ihm Geräusche einfach zu viel - vor allem wenn er aufgewühlt
war. »Lucius«, sagte er. »Hast du vorhin den Priester gesehen?«
    »Ja.«
    »Meinst du, er war meinetwegen da?«
    Ich wollte ihm keine falschen Hoffnungen
machen. »Keine Ahnung, Shay. Vielleicht ist einer in einem anderen Block todkrank,
und er hat ihm die Sterbesakramente gegeben.«
    »Die Toten leben nicht, und die Lebenden
sterben nicht.«
    Ich lachte. »Danke, Yoda.«
    »Wer ist Yoda?«
    Er redete wirr, so wie Crash vor einem
Jahr, als er angefangen hatte, das Bleiweiß von den Zellenwänden zu knibbeln
und zu essen, in der Hoffnung, es hätte eine halluzinogene Wirkung. »Na, wenn
es tatsächlich einen Himmel gibt, wette ich, ist er voller Löwenzahn.«
    »Der Himmel ist kein Ort.«
    »Hab ich auch nicht gesagt.«
    »Wenn er da oben wäre, an dem Himmel, den
wir sehen können, dann wären die Vögel vor uns da. Wenn er tief unten im Meer
wäre, dann wären die Fische die Ersten.«
    »Wo ist er denn dann?«, fragte ich.
    »Er ist in uns«, sagte er, »und auch
außerhalb von uns.«
    Falls er nicht die Wandfarbe aß, dann
brannte er mit Sicherheit heimlich Schnaps. »Wenn das hier der Himmel ist, dann
verzichte ich gern.«
    »Geht nicht, weil er ja schon hier ist.«
    »Na, du hast wohl als Einziger von uns
eine rosarote Brille bekommen, als du eingebuchtet wurdest.«
    Shay schwieg eine Weile. »Lucius«, sagte
er schließlich. »Warum ist Crash auf Joey los und nicht auf mich?«
    Ich wusste es nicht. Crash saß wegen
Mordes. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass er wieder töten würde, wenn sich
die Gelegenheit bot. Nach Crashs ureigenem Gesetzbuch hatten Joey und Shay
eigentlich gleichermaßen gesündigt: Sie hatten Kindern Leid zugefügt.
Vielleicht hatte Crash gedacht, Joey wäre ein leichteres Opfer. Vielleicht
hatte Shay sich durch seine Wunder ein bisschen Respekt verschafft. Vielleicht
hatte er einfach Glück gehabt.
    Vielleicht dachte ja sogar Crash, dass
Shay etwas Besonderes war.
    »Er ist nicht anders als Joey ...«, sagte
Shay.
    »Kleiner Tipp von mir? Lass das bloß
nicht Crash hören.«
    »... und wir sind nicht anders als
Crash«, beendete er den Satz. »Du weißt nicht, was Crash zu seiner Tat
getrieben hat, genau wie du nicht wußtest, was dich dazu treiben würde, Adam zu
töten, bis es passiert ist.«
    Ich sog scharf die Luft ein. Im Knast
sprach keiner über die Taten von anderen, selbst wenn du insgeheim glaubtest,
dass sie schuldig waren. Aber ich hatte Adam getötet. Meine Hand hatte die Pistole
gehalten; sein Blut hatte meine Kleidung getränkt. Das Einzige, was in meinem
Prozess noch geklärt werden musste, war das Motiv.
    »Es ist nicht schlimm, etwas nicht zu
wissen«, sagte Shay. »Das macht uns menschlich.«
    Egal, was der kleine Philosoph nebenan
dachte, einige Dinge wusste ich ganz sicher: dass ich einmal geliebt worden war
und die Liebe erwidert hatte. Dass ein kleines wachsendes Pflänzchen einem
Menschen Hoffnung geben konnte. Dass das Leben eines Menschen nicht davon
bestimmt wurde, wo er am Ende landete, sondern von den Einzelheiten, die ihn
dorthin gebracht hatten.
    Dass wir Fehler machten.
    Ich hatte genug von irgendwelchen Rätseln
und schloss die Augen, und zu meiner Überraschung sah ich lauter Löwenzahnblüten
- als wären sie auf die Wiesen meiner Phantasie gemalt worden, hunderttausend
kleine Sonnen. Und mir fiel noch etwas ein, das uns menschlich macht: Glaube,
die einzige Waffe in unserem Arsenal, um gegen

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